Wahrscheinlichkeit und die Wachtel am Teller
Obwohl es trübe geworden ist und ein Regen nicht auszuschließen, bin ich nach Wildenwarth in die königliche Schlosswirtschaft entflohen. Nur zu einem Bier, evtl. einer Kleinigkeit. Mein Ipad ist – wie immer – dabei und auch mein kleiner mobiler Router, der mir die Welt des Internets erschließt.
Ich sitze unter hohen Bäumen, dicht belaubt mit dicken Stämmen. Die halten einen ersten Regen ab und so die Flucht zum nahe stehenden Nissan.
Ich werde freundlich begrüßt. Ein Tegernseer Bier und die Speisekarte sind schnell zur Stelle. Speisekarten zu lesen ist immer ein Genuss, obwohl ich ja eigentlich nur ... . Was sehe ich da? Wachtelkotelett mit ... . Ich frage die Bedienung und die – in Person einer charmanten, gut aussehenden Dame, erklärt mir das so genüsslich, dass ich nicht widerstehen kann. Sie empfiehlt es mir als etwas »ganz Besonderes«! Ein Wachtelkotelett! Wachteln kenne ich nur als relativ kleine Vögel, die man allenfalls in Italien servierte. Vor zirka vierzig Jahren erwarben wir – meine Frau und ich – drei Stück davon in Bozen für den Arztfreund von Britting, der solche Delikatessen schätzte. Seine jüdische Frau – eine hervorragende Köchin – war weniger begeistert von solcher Perversität, wie sie das bezeichnete, was ihr zur Zubereitung in die Küche gebracht worden war.
Inzwischen musste ich doch fliehen, weil Petrus seine Schleusen öffnete. Man hatte mir bereits einen Tisch reserviert in der Jägerstube. Dort sitze ich nun an jenem kleinen Tisch, an dem ich oft mit meiner Frau gesessen bin.
Hier also wird mir die Wachtel serviert. Der Anblick schon ist ein Genuss! Zu schade zum essen denke ich, doch die Neugier obsiegt. Nun bin ich 92 Jahre alt geworden und erlebe so ein Premiere! Das Ansehen hält nicht nur was es verspricht; köstlich – ganz zartes Fleisch, es ist ein Schenkel und wohl ein Stück vom Brüstchen auf einer Gemüseunterlage gebettet mit einer Sauce, wie man sie so schnell nicht wieder finden wird. Nun bestelle ich mir doch noch ein viertel Veltliner dazu. Zwei Rosen auf dem Tcsh (Reformschreibung? fj) erinnern mich an den gestrigen Abend in der Rohrdorfer Post – doch nicht nur, auch an das schöne Gedicht »Ich sah des Sommers letzte Rose stehn ...«. Ich höre SIE es sprechen. - - -
Ich muss heim, es wird zu dunkel, das schaffen die alten Augen nicht mehr.
Es goss wie aus Eimern, und da mich meine Beine so schnell nicht mehr befördern, bekam ich eine schöne Dusche zum Nachtisch. Wie ein Sprengwagen fuhr ich heim, eine Gratisautowäsche. Nun sitze ich unter der Markise auf dem Balkon und höre dem Regen zu. Wie schön ist der Regen! Britting schrieb, nach Aussage von Armin Mohler, die schönsten deutschen Regengedichte.
Ich werde ein Verschwender, denke ich. Doch dann sah ich die Tagesschau und revidierte meine Meinung. Besser eine Wachtel auf dem Teller, als faules Geld auf einem Bankkonto. »Rien ne va plus«, wird man nun wohl auch bald sagen müssen, wenn es mit unseren Finanzen so weiter geht. Pascal schon beschäftigte sich mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Warum also aufs Wahrscheinliche warten, wenn die Wachteln auf dem Teller liegen?