Freitag, 29. Juni 2012


Sphären


Kann man in verschiedene »Sphären« leben, wie es eine Dame in einem Blog behauptete. Sie ordnete ganz banale Dinge je einer anderen Sphäre zu. Dem widersprach fj, der immer nur in der gleichen Recht behalten will. Natürlich irren beide! 
   Definieren wir doch zunächst einmal, was eine Sphäre ist: 
   Da stoßen wir auf Ptolemäus, auf Pythagoras und Aristoteles, später auf Kepler und schließlich (weitgespannt) auf Goethes Sphärenmusik.
   Griechisch bedeutete es »Ball, Kugel«, hebräisch »Nichts« und arabisch »Leere«. 
   Und was nun? 
   Womöglich waren »Welten« gemeint, die aber nur auf eine Person bezogenen. Lebt jemand in zwei solcher Welten, spricht man heute häufig von »gespaltener Persönlichkeit« als eine Erkrankung, die in den Bereich der Schizophrenie gehört, was zwar nicht ganz korrekt ist, jedoch in unserem Zusammenhang bei jeder Ausdeutung auf Krankheit schließen lässt. 
   Alles was wir als gesunde Menschen tun, tun wir in der Gesamtheit unseres Seins. Wir können die Tätigkeiten und Wünsche nur gewissen Ordnungsprinzipien unterstellen, das können eigene oder auch angenommene sein.
   Es kam nun gar der Begriff »Median« ins Spiel, der aber primär mathematische Bedeutung und stellt einen Mittelwert oder Zentralwert dar. Bei diesem gibt es zwar auch zwei Hälften, jedoch haben die nichts mit der Psychologie oder Medizin zu tun und wenn hier von »Robustheit« oder gar von »Ausreißern« gesprochen wird, beziehen sich diese Begriffe ausschließlich auf arithmetische Werte. 
   Wir Menschen neigen dazu, einfache Dinge zu komplizieren, aus welchen Gründen auch immer, am häufigsten in der Flucht vor sich selbst als Entschuldigung. 
   Wir haben viel mehr Freiheit als wir es für möglich halten, nur müssen wir lernen, damit vernünftig umzugehen. Es gibt keine Standardlösungen, schon deshalb nicht, weil ein jeder Mensch anders ist. Das ist die schönste Erkenntnis! Zu ihr gehört aber auch die, dass es keine absolute Freiheit geben kann, solange wir Menschen sind.
   Oder sollte das beim Bloggen anders sein? Dann bin ich es, der noch was dazu lernen muss.
Dazu meint der gestrenge Lektor. Bloggen ist Schreiben wie anderswo auch, wie ein Schulaufsatz. Dieser fällt durch mit: »Thema verfehlt«. Oder des Glossisten Regel: »Ein Thema bitte



Liebe Marion, jetzt habe ich schon die Kraniche an den Chiemsee gedichtet. Auch diese waren einst Boten, wenn auch nicht hermesgleich, so doch Überbringer negativer Botschaft. Das ist nachfolgend korrigiert. Hinzu kamen noch ein paar Ausschmückungen (Lichter aufsetzen nennt man das).


Begegnung am Chiemsee 

Liebe Marion,
   heute Vormittag ereichte mich der Anruf einer Frau, die ich erst im April durch Fritz Jörn kennen gelernt hatte. Wir hatten uns zweimal getroffen, und es gab gute Gespräche und gegenseitige Sympathie. Ich nannte sie sogleich bei ihrem Vornamen Helga, was sonst nicht meine Art ist. Ihr Schicksal hatte mich berührt, sie hat alle Angehörigen verloren, darunter ihren Vater, der bei einem Autounfall ums Leben kam. Das Auto hatte sie gesteuert, und erst nach einem dreijährigen Prozess wurde sie von der Anklage der fahrlässigen Tötung freigesprochen. 
   Sie sieht gut aus, hat aber keinen Mann abbekommen. Ob sie zu anspruchsvoll war oder was immer es auch für Gründe gewesen sein mögen, für diesen Zustand, das weiss ich nicht. Sie ist intelligent, offensichtlich aus gutem Haus, hat aber verständlicherweise ein weinig stabiles Seelenkorsett. Auch auf ihre Gesundheit scheint sie nicht mit der angebrachten Gelassenheit und Selbstvertrauen zu achten, zum Wohl der Ärzte. 
   Sie also rief mich an, um sich mit mir zu verabreden. Weite Strecken fährt sie nicht mehr mit ihrem Auto, und da sie in Staudach wohnt, verabredeten wir ein Treffen in einer Gastwirtschaft am Chiemsee in der Nähe von Übersee-Feldwies. 
   Dort trafen wir uns ein weinig verspätet, da ich das Lokal  nicht gleich gefunden hatte. Es ist ein wundervoller Platz am Ostufer des Chiemsees, wo man unter hohen Bäumen direkt am Ufer sitzt, mit dem Blick auf die westlich vorgelagerten Inseln, die Herren und die Fraueninsel, mit der dazwischen liegenden Krautinsel, die nicht bewohnt ist. 
   Ein bissl fremdeln war bald überwunden, und ich erfreute mich ihrer guten Sprache und Stimme. Mein immer vorhandenen Optimismus und meine Lebensfreude mit der mir verliehenen Gnade des Parlierens wirkte ganz offensichlich positiv, was dazu beitrug, den Tag zu verschönen. 
   Mir gefiel es nicht ganz, da der Aufenthalt in so schöner Umgebung die Konzentration aufs Gespräch mindert. Dazu kommt, das es für den Ipad einfach zu hell ist, und auf dem befindet sich doch immer etwas, was zur Unterhaltung beiträgt. So konnte ich die Neugier nur auf Themen für die Wiederholung eines Treffens lenken, bei der sie mich dann auch Hans nennen wird, wie wir das zum Abschied beschlossen.
   Sie ist ganz untechnisch, es reicht bei ihr zuhause gerade noch bis zum Telefon. Damit ergeben sich ganz andere Perspektiven der Kommunikation, weil ich ungern telefoniere. Also Dialog. 
   Warum schreibe ich Dir das, liebe Marion? Weil Du mir eine so gute und liebe Freundin bist, der ich gerne mitteile, was ich erlebe. Natürlich sind das keine Amouren, aber es sind halt doch Begegnungen zwischen Mann und Frau, und die sind immer anders als die mit Männern, so es denn noch solche gibt.
   Übrigens war die Bedienerin so reizvoll und aufmerksam, dass sich schon deswegen ein Besuch dort lohnte. Wäre ich jünger, zur Abendzeit, wenn die Sonne im Chiemsee versinkt und den See in rote Farbe aller Schattierungen und Nuancen taucht, wenn die Kormorane aus dem Delta der Tiroler Ache ihr Nester aufgesucht haben, wenn an den Ufern des Sees sich tausend Lichter entzünden und sich flimmernd im Schwarz des Wassers spiegeln, wenn dann der Mond sein silbernes Licht mit der Kühle der Nacht mischt, wenn das Windlicht brennt, die Gespräche verstummen, wenn nur noch der Wein sonnengold und verführerisch funkelt? Wie wärs? ... wenn ich junger wär, um den Satz zu beenden, nicht aber den Gedanken, glüht solcher doch auch in einem alten Herz, nach anderem Verlangen, als dem der Jugend aber nicht weniger schön.


   Aber ich kann in der Nacht nicht mehr fahren, müsste also dort übernachten oder eine Freundin mit Auto haben.–
Hermes (Wikipedia)
   Ach, zwei Frauen sind es nun, die mir von solchen Abenden hier am Chiemsee mit ihren alten Müttern erzählten, die eine ist jene Helga, die andere Frau Halmer, deren Mutter dort in einem nahe gelegenen Altersheim lebte. Beide Mütter sind tot, sind im Hades, den ja auch Dein Hermes*) kannte; denke nur an Orpheus und Euridike! Der Hermes ist der Gott der Kaufleute und der Diebe, lies mal in Wikipedia nach, was der Kerl sonst noch alles so trieb. Wenn schon griechische Mythologie, dann wüsste ich was Besseres für Dich – aber eben nur Besseres, was ja noch nicht Gutes ist. Und: Wenn schon der Hermes ein Götterbote ist, was bin dann ich? Ist doch für einen jeden der Bote willkommen, der das verkündet, was man sich wünscht. Doch was wünscht man sich denn wirklich, wenn’s nicht gerade das Opportune ist? –
   Was Du vom Streit#) und den ehelichen Belastungen des Alltags schreibst, ja, Marion, leider ist das so! Man kann es aber überwinden, wenn man die Schuld – die ja fast immer bei beiden liegt – zuerst bei sich selbst sucht, und so zur schnellen Versöhnung bereit ist.
   Was gibt es übrigens Schöneres als Versöhnung? Wer ganz raffiniert ist, fängt schon deshalb einen Streit an! Ja, das bleibt mir nun versagt – aber schön war es ja doch jedesmal, die Versöhnung!
   Nun aber heißt es zu Bett zu gehen. Staatstrauer ist angesagt erfuhr ich gerade, wenigstens drei Tage. Und wehe dem, der jetzt noch nach Italien fährt.
   Wir jedenfalls, liebe Marion, bleiben am Ball, selbst wenn wir mal im Abseits stehn! Weisst Du was das ist?
   Bald einmal verrät Dir das, Dein alter  (aber jünger werdender) Hans.

*) Marion hatte Hermes in einem Brief als ihren Götterboten bezeichnet.
#) Es handelt sich um ehelichen Streit im allgemeinen Sinn, also keinem speziellen, von dem hier die Rede ist.


Montag, 25. Juni 2012


Lonja
Ein langer, langer Blog über Lonja Stehelin-Holzing, geborene Helene Freiin von Holzing-Berstett
Mit einem langen Zitat aus dem Sankt-Anna-Platz
Dachte schon,
Dachte schon, das sei »mein« Landschulheim,
nur leider fehlt der Turm. fj
Lieber Fritz Jörn, ich hatte mir schon mehr zugetraut, nachdem acht Monate vergangen sind, da ich Abschied nehmen mußte, von einer außergewöhnlichen Frau, von meiner Frau, und von einem Stückchen Welt, das mit ihr ging.
   Ich brachte Lonja ins Gespräch - sie ist fast so lange tot wie Britting – und damit eine Frau, die nicht als irgendwer in einen Blog gehört. Es war eine Frau, die man nicht »nicht lieben« konnte, eine Zauberin, ein Geist aus vergangener Zeit mit dem staubigen Charme des Adels, mit dem geistigen Niveau der Antike, mit dem erotischen Reiz der Verschleierten, dabei aber verspielt, versponnen, modern – und eine Lyrikerin vom Rang einer Sappho.  
  Genug, es reicht das eh nicht aus, um wiederzugeben was sie war. Sie liebte meine Frau, nannte sie Melusine und Binsenkraut, schüttete ihr Herz bei ihr aus (was übrigens fast alle der vielen Freundinnen bei meiner Frau taten, war sie doch eine, die zuhören und mitempfinden konnte).
   Britting war mit von der Vring eng befreundet, die Ehepaare trafen sich in Münchner Weinlokalen. An einem solcher Abende war es auch meine Frau, die vorschlug, der Sonja [Schuldt verschreibt sich immer wieder von Lonja zu Sonja. fj] einen Preis der Akademie der schönen Künste zu verleihen, um der Soja finanziell ein wenig zu helfen, konnte sie doch mit Geld nicht umgehn. Sie bekam den Preis und verschenkte wahrscheinlich alles an Zigeuner, die sie in ihr Herz geschlossen hatte. – Die Freiheit, das Vitale, das Geordnete in andere Weise als in unser Welt. 
   Ach, was geht mit dem Tod eines Menschen alles verloren. Lesen Sie das Gedicht vom chinesischen Maler: »So gehen sie in ihre Werke ein.« [steht hier ganz unten],  Zigeunerbraten (Tomate und Igel) von Britting,  Gedankenfetzen.
   Lesen Sie – und das ist, was mich emotional sehr bewegt – was meine Frau in ihrem Buch »Sankt-Anna-Platz 10« über Lonja schreibt [weiter unten] und damit die Schatzkammern meiner Erinnerungen öffnet, die preiszugeben mir unendlich schwer fällt. »So gehen sie in ihre Werke ein«, es ist also nichts verloren, man muss es nur neu entdecken, über Brücken gehn, durch Täler und durch Schluchten, muss Berge erklimmen und Nachtigallen singen hören, schlafen, träumen und wachen, um neu zu sehen, wie unvergleichlich schön das Leben ist. Wir haben es verlernt!
   Wenn ich so weiter schreibe, wird es ein Buch, das keiner liest! Drum Bloggen? Ist’s am End nicht nur Eitelkeit? Könnt ja sein, das ein Harfenton ein Ohr erreicht. Wahrscheinlichkeitsrechnung, Pascal, gefressen wird Laberkas. Aber, c’ est bon, ich versuch es mal mit einem Lonjablog – wenn Sie mögen.
   Ihr alter Hans-Joachim Schuldt

Ach ja, wir sind bald wieder Weltmeister im Ball- und Schienenbeintreten! Soll ich darüber mal bloggen? 
   Doch jedenfalls geht nun zum Federball (jedoch nicht ohne herzlichen Gruß),
   Ihr Hans-Joachim Schuldt.
[Schreibt dazu der Jörn: Ei freilich ist Bloggen Eitelkeit! Siehe denn auch www.Joern.De/Blog. Tun’S mir bloß nicht auch noch über Fußball herumbloggen !–]
 
Lieber Herr Jörn, ich habe Ihnen gestern noch geschrieben und die Briefe der Sonja beigefügt, finde aber die E-Mail nicht mehr, nur eine Eingangsbestätigung. Haben Sie sie erhalten? [Ja, gleich vier Mal …, also keine Unruhe! Unten ist ein langer Auszug aus dem Brief, schon von Ingeborg in den Sankt-Anna-Platz abgeschrieben. fj]

Nachfolgend nun ein Beitrag zu Lonja, wie ich ihn sehr gerne hätte, wenn es denn möglich ist.
   Morgen kommt der Ihnen bekannte Dr. S… und holt den ganzen »Krempel« ab [den Britting-Nachlass].
Nun bleibe nur noch ich übrig; vielleicht so wie im letzten Gedicht.
   Ihr Hans-Joachim Schuldt 
dem’s nicht leichtfällt, wohl wissend, dass es sich ja nur um materielle Güter handelt. 
   Abschiednehmen hat meine Generation gelernt. Abschied von Menschen und Dingen, Abschied von Zeitperioden unterschiedlichster Art.

   Morgen nun nehme ich Abschied vom literarischen Nachlass meiner Frau. Alles liegt aufgestapelt bereit, bei einem letzten Blick in eine Schachtel sind es sechs handgeschriebene Briefe an sie aus den sechziger Jahren, also denen des Todes von Britting. Ich lese als Anschrift »Liebe Melusine!«, als Absender »Lonja«. Es ist jene Lonja Stehelin-Holzing, die meine Frau in ihrem Buch »Sankt-Anna-Platz 10 – Erinnerungen an Georg Britting und seinen Münchner Freundeskreis« im Kapitel »Das Leopold« auf den Seiten 256 bis 260 wie folgt beschreibt [siehe auch www.Britting.De/prosa/anapl.html]:

––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––

Es muß noch vor diesem Geburtstag [Brittings 70.ten] gewesen sein, daß Georg von der Vring eine uns allen Unbekannte an den Tisch brachte, eine Dame mit großen dunklen Augen und wohllautender Stimme, der man die einstige Schönheit noch ansah: Lonja Stehelin-Holzing. Vring hielt sie für eine Lyrikerin, die, im Schatten ihrer berühmten jüngeren Schwester Marie-Luise Kaschnitz stehend, mit ihrem Ta­lent nicht die Geltung erlangt hatte, die ihr gebührte. Nicht nur ihrer eigenen Gedichte wegen, die thematisch vielseitig waren, Sphärenhaftes ebenso ausdrücken konn­ten wie sie den Volksliedton trafen, der Vring ansprach:
   Die alten Dächer sind
   Schön wie Natur.
   Dort läßt ein Hauch von Wind
   Schon seine Spur.
   Zwischen den Ziegeln bunt
   Siedelt das Moos sich an,
   Storchschnabel Steinbrech und
   Gräser und Thymian.
Sie war auch als Übersetzerin englischer Lyrik hervorgetreten, wie er, Vring selbst, mit seinem Band »Englisch Horn«. Ihre Übertragung des Dunkirk Pier fand er meisterhaft:
   Über die Wogen unserer Finsternis
   Schleicht Furcht wie ein schweigender Oktopus
   Fühlend und tastend sich vor. So klar
   Wie ein gespiegelter Stern; bebend und kalt wie ein Vogel;
   Und sagt uns Schmerz, und sagt uns Tod sei nah
beginnt die Ballade von Captain Alan Rook bei ihr. [Mehr dazu unten. fj]

   Auf Vrings Empfehlung hin (unterstützt von Britting und anderen Mitgliedern) bekam sie 1962 einen Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste zugesprochen. Lonja, wie sie genannt wurde, wenn man über sie sprach, hatte schwierige Lebensverhältnisse hinter sich, über die sie aber nur andeutungsweise redete, die ein Grund sein konnten für den vernachlässigten Umgang mit ihren rei­chen, schöpferischen Gaben. Sie war mit dem Schweizer Ingenieur Jacques Stehelin verheiratet gewesen, hatte kur­ze Zeit mit ihm in Japan gelebt, war von ihm geschieden, hatte zwei Töchter — eine davon, die »schwarze Anne«, arbeitete kurze Zeit als Sekretärin der Akademie.

   Nun saß sie also mit uns am Tisch, manchmal ein we­nig müde, mehr zuhörend, Scherzen zugänglich; oder sie berichtete uns von ihrer Tätigkeit an der nach dem Krieg eingerichteten Dienststelle für der Ausrottung entgangene Zigeunerkinder, deren Betreuung ihr jahrelang oblag, bis ein Stichwort fiel, die Zeile eines Gedichtes an ihr Ohr gelangte, sie das Gedicht zu Ende zitierte, ein zweites, drittes dazukam, denn »durch diese schöne, leidenschaftliche und ungebärdige Frau flutete die Lyrik aller Zeiten unseres Volkes wie das eigene Blut« (so Benno Reifenberg in seinem Nachruf).

   Weshalb es sie nach München gezogen hatte, wußten wir nicht, man fragte auch nicht danach, aber daß sie we­nig Geld besaß, in einem möblierten Zimmer (oder Apartment) wohnte, kam uns schon zu Ohren. Der Satz eines Briefes, den sie mir 1963 aus Bollschweil schrieb [also Lonja Stehelin-Holzing an Ingeborg Britting]: 

   »Als ich, um eigentlich zur Besinnung zu kommen, nach München kam, und dort von Euch schön empfangen und erhalten wurde [...]«, deutet den Grund wohl an, aber ihr seelischer Haus­halt kam auch in München nicht in Ordnung. Über Ma­rie-Luise Kaschnitz erinnere ich mich nicht, sie sprechen gehört zu haben, öfter aber über ihren Vater und ihre älte­re Schwester Karola, in der Familie Mary genannt, die sie geliebt und deren Klugheit und schriftstellerische Gaben sie bewundert hatte. Karola war in erster Ehe mit Freiherr Marschall von Bieberstein verheiratet gewesen, in zweiter Ehe mit dem englischen Diplomaten Sir Douglas O’Neill, und sie starb in der Zeit, als Lonja ihre Flucht nach Mün­chen antrat, 1960. Wenn man allein mit Lonja war, fiel einem die tiefe Unruhe auf, die von ihr ausging, eine Ziellosigkeit, und doch war sie auf der Suche nach Men­schen, das spürte man, spürte auch ich, und fürchtete ein wenig ihre starke Zuwendung, die mir galt, und die Brit­ting in dem Maß nicht schätzte. Ein Bild bleibt mir unvergeßlich: Lonja in einem himbeerroten, plissierten, ärmellosen Kleid, zeitlos schön! Sie trug es bei einer Ge­burtstagsfeier, zu der ich sie mit uns jüngeren Leuten (oh­ne Ehemänner), Schauspielern, Freunden, gebeten hatte und auf der sie, sprühend lebendig, den Mittelpunkt des Abends bildete. 

   Es war Parsi (später Percy) Adlon*, der sie zu nächtlicher Stunde nachhaus begleiten durfte und mir am anderen Morgen am Telefon von seiner Bewunderung für diese Zauberfrau sprach.
* Percy Adlon, der Filmregisseur, u.a. [Out of Rosenheim] begann seine Karriere an der Lite­raturabteilung des Bayerischen Rundfunks als Sprecher vor allem von Lyrik, er konnte Gedichte vollendet gut lesen.
   Wir konnten damals nicht ahnen, daß München und unser Kreis [um Georg Broitting] ihre [Lonjas] vorletzte Lebensstation sein sollte, bevor sie im Herbst 1964, ein halbes Jahr nach Brittings Tod, ei­nem Gehirntumor erlag. Wie Marie-Luise Kaschnitz, für die das Schwarzwald-Dorf Bollschweil und sein Gutshaus Heimat schlechthin bedeutete, hing auch Lonja an diesem Stück Erde. Ihre Vorfahren kamen väterlicher- und müt­terlicherseits alle aus Baden, aus alten adeligen Offiziersfa­milien. Der Vater, zu dem die Bindung besonders innig war, war preußischer Generalmajor gewesen, Ordonanzof­fizier des Prinzen Max von Baden, daher lebte die Familie eine Zeit lang in Potsdam, war aber nach 1918 wieder nach Bollschweil zurückgekehrt.

   Im März 1963 hielt sie sich für einige Wochen dort auf, der Bruder bewirtschaftete jetzt das Gut, und sie erin­nerte sich ihrer fast zwanzig Jahre zurückliegenden Heim­kehr von Basel ins Vaterhaus:

   »Als ich 1946 wiederkam, habe ich gemeint, jeder Birkenzweig, jedes knisternde Büschelchen Heidekraut, ja die ganze Land­schaft spüre, daß einer wieder da sei, der sie liebt. Vielleicht war es auch so«, schrieb sie mir [immer noch Lonja an Ingeborg], und fuhr – wieder zur Gegenwart kommend – fort: »Dies war nun eine stumme Zeit, draußen und drinnen. Da ich aber heute sowohl ein Rotkehlchen sah, als auch einen Buntfinken, muß ich Ihnen das melden, mit den lieb­sten Grüßen und Frühjahrswünschen für Sie beide, die ich ver­misse. Alles ist nur so reich wie der Mensch selber; (doch wie André Gide muß ich von mir sagen, daß es mir außerordentlich schwer fällt, unglücklich zu sein(!).

   Es kamen aus dem Welschland zarte, brüchige Sesselchen Louis XVI; Silbertablettchen; eine blaue (jenes herrliche Blau) Theebüchse; ein Koffer voll Bücher; [....] ein altes Korn­mädchen [Kommödchen! fj]; ein elfenbeinernes Papiermesserchen etc, alle diese Dinge habe ich in der Grande Maison in Chexbres lebendig gesehen, als Irene Forbes Mosse, die Enkelin der Bettina, dort lebte. [Ich war damals gegen Kriegsende …] Es war ein wunderbares Haus, eine alte Landvogtei. Jetzt ist es leer, ist ausgeräumt, alle die dort lebten und ein- und ausgingen, sind längst zerstreut oder tot […] – was alles so sein muß und in Ordnung ist! Nur die blaßgrünbespannten Sessel­chen, das Récamiercanapee, die Bücher, die Theebüchse standen all ihres Glanzes, ihres holden Schimmers beraubt, heimatlos, zusammengefallen, schäbig auf dem grossen Speicher (vom Haus hier) – es waren garnicht dieselben Dinge mehr – ich habe ihre Idee zu eigen, und will sie nicht, ich werde glücklich sein, wenn meine schwarze Anne sich damit einrichtet.«

   Fünf Jahre nach ihrem Tod kam im Claassen Verlag ein Bändchen mit Gedichten von Lonja Stehelin-Holzing heraus, das Vorwort schrieb Benno Reifenberg, das Nach­wort Marie-Luise Kaschnitz. Sein Titel: »Das Lied, eine Flamme«.

   Heute werden die drei Schwestern von Holzing-Ber­stett manchesmal mit den berühmten Schwestern Brontë verglichen, die aus einem Pfarrhaus in Yorkshire stamm­ten, Charlotte, Emily und Anne, und alle drei dichteten. Die bedeutendste der drei war Emily, deren Roman »Wuthering Heights« zur Weltliteratur zählt.
   Das Andenken an Lonja Stehelin-Holzing wird die Mainzer Akademie* bewahren, die zum 100. Geburtstag der Dichterin eine Publikation über sie vorbereitet.
* Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz
_____________________________________________

Abschied nehm ich [Schuldt] nun von diesen Briefen und unzähligen Schätzen, die sich angesammelt haben in einem so reichen Leben, wie sie es hatte, Abschied auch von einer Epoche, wie sie jene zauberhafte Lonja beschrieb. Es fällt mir wieder der Vers von Lonja [aus der Übertragung des Dunkirk Pier (Pier von Dünkirchen) von Alan Rook] ein:
   Über die Wogen unserer Finsternis
   Schleicht Furcht wie ein schweigender Oktopus 
   Fühlend und tastend sich vor. So klar
   Wie ein gespiegelter Stern; bebend und kalt wie ein Vogel;
   Und sagt uns Schmerz, und sagt uns Tod sei nah.
   Adieu
[Im Original hier:]
   Deeply across the waves of our darkness fear
   like the silent octopus feeling, groping, clear
   as a star’s reflection, nervous and cold as a bird,
   tells us that pain, tells us that death is near.


ALTERSFREUNDE

Sie gehen fort, ganz ohne Aufsehn,
fast wie wenn sie nur auf dem Spaziergang abends
statt umzukehren, immer weiter dort gewandert wären,
wo ihre Augen täglich sich erfrischten
an Wasser, Grün und Luft,
und an der Ferne über’m Rand der Stadt.
Beinahe wie der chinesische Maler,
der vor Zeiten still in sein letztes Bild gewandert ist:
Ein Landschaftsbild, vom Kaiser aufgetragen
für eine Wand im Sommerpavillon:
Er brauchte lang dafür und wollte nicht,
daß jemand ihn bei seiner Arbeit sähe.
Als er dann melden ließ, nun sei er fertig
und gleich der Kaiser kam, das Bild beschaun,
da war der Meister fort – war nirgends!
Aber endlich fand ihn der Kaiser doch.
Er sah ihn nämlich still, unaufhaltsam fort
in den gemalten blauen Hügeln gehn,
an Wassern, über Brückchen, zwischen Bäumen
und immer ferner, immer zarter werden,
bis er dann in der Tiefe ganz entschwand -
ihm, der hier zwischen Trauer und Entzücken
zurückgelassen noch im Saale stand.
So gehen sie in ihre Werke ein.

Lonja Stehelin-Holzing



Durchsichtige Tore.

Hör, es giebt geschwungne Schmiedetore,
und giebt schwere, mit den harten Bohlen,
aus gestrichner Eiche und Beschlägen,
die in einem Eisenkleeblatt enden;
Flügeltüren in gewölbter Einfahrt;
Riegeltüren schräg zu Kellerstufen
in den dunklen Duft von Stein und Wein;
halbe Türen, die im Sommer oben
immer offen sind, so daß ein Bildchen
in den Ställen ist, und in der Scheuer,
frisch, in warmer, friedvoller Heuluft;
endlich glatte weisse, graue Türen
in den Städten, ohne eigne Stimmen –
Aber alle, alle sind wie gläsern,
sind wie Wasser fliessend vor den Blicken, –
Wenn man steht und wartet, daß sie aufgehn,
und schon weiss, was innen ist, von früher,
und von früher weiss: Da ist es schön.

Lonja Stehelin-Holzing, aus dem Brief vom 31. März 1963 an Ingeborg Britting.
Ihre Handschrift, »Schönschrift«-Sorte

Lonja bei Amazon
»Zeit«-Artikel vom 15. 4. 1999 »Bogen der Sehnsucht gespannt«  

––––––––––––––––––––––––––––
Hier kamen noch Nachgedanken (und ich hoffentlich nicht in Teufels Küche, wenn ich sie und die Zitate hier bringe. Proteste (und Hul­di­gun­gen) bitte ver­trauens­voll direkt an mich, Fritz@Joern.De; ich fix’s dann – fj).

Lieber Herr Schuldt! Abschied nehmen fällt immer schwer, auch wenn Sie die schöne Gewissheit haben, der Nachlass Ihrer lieben Frau geht in gute und sichere und, wie es heute heißt, »kompetente« Hände über (nicht, daß die Ihren nicht kompetent wären!).
   Besonders berührt haben mich die Zeilen über »Lonja«. Sie gehört zu meinen liebsten Dichtern und gar ihre »Altersfreunde« sind mir engste Wegbegleiter!
   Im letzten Gedichtband von Reiner Kunze fand ich das Gedicht »Fahrt mit altem Meister«. Ich konnte es nicht lassen, dem Dichter die Verse der Kaschnitz-Schwester zu schicken mit dem Hinweis auf die Verwandtschaft zu seinem Gedicht. Daraufhin schrieb mir Kunze ein paar sehr liebe Zeilen und schrieb sein Gedicht extra für mich ab! [Für Walther Prokop] Da war ich platt ...
   Ich bin auch ein passionierter Kaschnitz-Leser und, als wir im Kaiserstuhl Urlaub machten (2001), da besuchten wir natürlich auch Bollschweil und dann auch Staufen, um die Gräber von Peter Huchel und Erhart Kästner zu besuchen. (Das taten auch Ingeborg Schuldt-Britting und Hans-Joachim Schuldt.)

Das Grab von Peter Huchel in Staufen
Foto Sikle Guckes
www.lyrikwelt.de/autoren/huchel.htm
Grab von Erhart Kästner in Staufen
Foto Sike Guckes
www.lyrikwelt.de/autoren/kaestnererhart.htm













– Link zum Band »Fahrt mit altem Meister« hier.
Den Text des Gedichtes mag ich nicht abtippen, dafür ist mir Kunze noch nicht lang genug tot, ist überhaupt nicht tot, und damit meine ich nicht Unsterblichkeit. Und wenn ich schon beim Reden bin, ich, der »Editor« im Hintergrunde, so find’ ich schade, dass Lonja immer nur als Kaschnitz-Schwester vermarktet wird, wenn überhaupt. Und dass noch wer den Erhart Kästner kennt, meine Jugendlektüre! Tempi passati. fj




Freitag, 22. Juni 2012

Samstag, 16. Juni 2012

Z.Zt. genieße ich es, ein ganz klein wenig zu frieren. Alle Fenster und Türen sind offen, um die heiße Luft zu verdrängen. Mittags im Garten der Schlosswirtschaft von Wildenwart war es noch angenehm gewesen, und das bei einem Schweinsbraten mit knusprigen Schwarten, die zwischen den Zähnen knackten, dass es eine Lust war. Und dazu das kühle Tegernseer Bier der Wittelsbacher. Da fehlen einem die Worte, ist doch des Wörternachens genug.
   Donner und Blitz sind vergangen, es war ein herrliches Schauspiel am abendlichen Himmel – und dann rauschte ein Regen hernieder, großzügig aus Kübeln gegossen, die Erde ward trunken – konnte nicht fassen, was der Himmel ihr bot – und bildete kleine Tümpel. Menschen und Tiere hatten sich verkrochen, zittern sie doch vor so elementarer Kraft, bei der mein Herz jubelt!
Hier mit Papier (mehr)
   Und das nun sollte ein ganz kurzer Brief nur werden, wie ich die Dinger immer noch nenne, die heute elektronisch geschrieben und versandt E-Mail heißen und doch auch Briefe sein können oder schlicht sind, ist doch das Papier nicht das Wesentliche, mit dem kann man ja auch – o weh, was nur alles! So sei das eben nur ein Wort von Ihrem alten papierlosen Freund Hans-Joachim Schuldt, der sie bei einem Glaserl Badenser Wein ganz herzlich grüßt.
15. Juni 2012

Dorffest des Trachtenvereins in Höhenmoos


Kirche in Höhenmoos
Auf dem abendlichen Heimweg von Rosenheim nach Höhenmoos bot sich ein Bild an, wie es nicht schöner sein konnte. Die Luft war klar und sorgte für einen ungetrübten Blick auf das Alpenpanorama, das sich vom östlichen bis zum westlichen Horizont erstreckte. Die Sonne stand schon so tief, dass sie die Hänge der Berge nicht mehr erreichte, so bildete sich eine Silhouette wie ein Scherenschnitt, über dem der Himmel rot leuchtete.
   Das verlockte dazu, den Abend noch in einem Wirtshausgarten zu verbringen.
   Im Dorf angekommen, ertönte vom Anger her Musik. Nicht eine jener Art, deren Lautstarke unerträglich ist und Menschen veranlasst, wie Wahnsinnige umher zu springen und mit erhobenen Armen dabei auch noch zu schreien, nein, eine Musik jener Art, wie sie früher zu hören war, als die Instrumente noch den Ton angaben.
   Der Entschluss, dort hin zu gehen, war rasch gefasst. –
   Auf dem Dorfanger herrscht reger Betrieb. Unter alten Apfelbäumen sind rund um dem Maibaum viele Tische und Bänke aufgestellt. Dicht bei dicht sitzt Jung und Alt, die Musi’ spielt, so wie sich das gehört, ohne Kraftverstärker. Das Bier fließt reichlich, ein heißer Tag hat für den nötigen Durst gesorgt. Als Garderobe ist Tracht angesagt, die Madln san fesch, die Buam a!
   Noch ist es nicht dunkel, der Himmel zeigt einen Rest von Bläue, schon bald wird sich die Nacht auf einige Besucher senken.
   Bunte Lichterketten sind zwischen den Bäumen gespannt und beleuchten die Szene. Neben der Kapelle ist ein Tanzboden aufgestellt, auf denen sich Paare in ihren Trachten im Takt der Musi anmutig drehn. Am anderen Ende ragt die Kirche mit ihrer fledermausumflatterten Kuppel dunkel in den Abendhimmel.
Pieter Bruegel der Ältere
Die Bauernhochzeit (ca. 1568)
Wien, Kunsthistorisches Museum
(hier aus der Wikipedia)

   Grauer Rauch steigt von einem Rost empor, auf dem gegrillt, geröstet, gebraten wird. An diversen Verkaufsständen gibt es alles zu kaufen, was zum leiblichen Wohl gehört; in einem Gatter eine lebende Sau. Wozu das, frage ich mich, doch bald klärt sich diese Frage: Sie soll zur Gaudi der Gäste verlost werden.
Es ist wie ein Bild von Pieter Bruegel.
   Das alles macht Appetit. Ich finde am Rand noch einen Tisch mit einem freien Platz. Das Bier wird serviert, das Essen muss man sich selber holen. Es gelingt mir, eine junge, hübsche Bedienerin zu überreden, mir zwei paar Schweinswürstel mit Sauerkraut zu bringen. Alles ist gut, und ich genieße den Abend. So mache ich auf meinem mich immer begleitenden Ipad Notizen. Da fragt mich ein junger Mann – er hat einen Ipod zur Hand – ob er eine Aufnahme von mir machen dürfe. Ich bin ein wenig überrascht, halte ich mich doch nicht mehr für so sehenswert, willige aber – indem ich mein Ipad zur Seite lege – ein. »Nein, nein«, sagt er darauf, »bitte mit Ipad«. Auch der Wunsch sei ihm erfüllt. Er bedankt sich, indem er’s Buidl anschaut und »prima« sagt, dann verschwindet er und kommt mit einer neuen Halben Auerbräu an und setzt sich zu mir. Er hat ganz kurz geschnittenes Haar, ein rundes Gesicht mit »klugen« Augen und wirkt sehr sympathisch. Bald erfahre ich, dass er zweiundzwanzig Jahre alt ist und der Junior eines mir dem Namen nach bekannten Baggerbetrieb in unserer Nähe, drunten in Achenmühle. Zu Fuß sei man herauf gekommen und zu Fuß gehe man auch wieder heim, das Auto bleibe an solchen Abenden im Stall. Respekt, denke ich mit schlechtem Gewissen. Der Vater säße da drüben am Tisch, ob ich nicht Lust hätte, mit rüber zu kommen. Ich habe!
   Dass beide aus dem gleichen Holz geschnitzt sind, merke ich sehr bald. Was ich denn daheim trinke, werde ich gefragt, und als ich »Wein« antworte, lässt es sich der Vater nicht nehmen, davonzueilen, um solchen zu holen. Er kommt zurück und was hat er dabei? Nicht den erwarteten Schoppen, auch keine Karaffe, nein, zwei Literflaschen Moselwein.  Na, denke ich, der schätzt dich richtig ein! So saßen wir mit Dazukommenden und -gehenden bis zur Mitternacht, und es hatte sich mit der Restbläue des Himmels erfüllt, was ich Anfangs gedacht.
   Wie Vater und Sohn und die anderen auch alle, die zu Fuß hier herauf gekommen waren, [heimkamen,] habe ich noch nicht heraus bekommen. Ich hatte es nicht weit und mit einen Stock darf man auch mit fünf Promille gehen – wenn man noch kann.
   Ein Stündchen längeren Schlaf hab ich mir erlaubt nach dieser Nacht, in der ich träumte, ich hätte die beim Fest verloste Sau gewonnen und hilflos mit ihr vor meiner Wohnungstür gestanden: 
Wollte ich die Nacht doch nicht mit einer Sau teilen?

Am Morgen dann schrieb ich den Dankesbrief:
»Glück des grauen Hauptes, das einsam hinlebt,
Labsal des Alters.«

Mit diesen beiden Zeilen endet das Gedicht mit dem Titel der letzten Zeile.
   Gestern nun war ich ganz unverhofft Ihr Gast und wurde mit Wein und guten Gesprächen gelabt.
   Als Dank für diesen schönen Dorfabend auf dem Anger von Höhenmoos, mit Tanz und Musi und Menschen in ihren Trachten,
   revanchiert sich mit dem Band »Lob des Weines«

der alte Ipad-bewaffnete
Hans-Joachim Schuldt
   Für Vater und Sohn
Höhenmoos, Samstag, 16. Juni 2012

Meine Kirmes im »Volksboten« vom 15. 9. 1994 – fj

Donnerstag, 14. Juni 2012

Vor ein paar Tagen war ich mit einer jungen Ärztin der Unfallchirurgie in Wildenwart beim ollen Millibauern und wurde dabei rasant gefahren mit einem Audi, das am Nummernschild OA als Ort ausweist, was ich mir als »Ende und Anfang« dekodierte. [Das Ostallgäu als Α und Ω? fj]
»Siehst du den Hut dort auf der Stange!«
Der Gesslerhut links im Bild (Wikipedia)
   Sie blieb total alkohollos, nicht einmal nippen vom guten Tegernseer Bier erlaubte sie sich. Das ist nun der zweite Beweis für mich alten Mann, wie gehorsam Menschen sein können! Nun »Gehorsam ist besser als Schlachtopfer«, mahnt das alte Testament, und im Prinzip bin ich es auch, wenn auch als ein vom unbedingten Gehorsam fordernder Nazisaat gebranntes Kind und einen Kesslerhut nie grüßend Wollender. [Einen Hut der Kesslerzwillinge hätt’ er g’wiss nicht verachtet, den vom Gessler schon, meint fj, und achtet auf die Tipperei].
Der Vorwurf

   Der Vorwurf erging, weil ich des Abends noch im fünf Kilometer entfernten Rohrdorf einkehrte und dabei einen halben Liter Bier und vier Achtel grünen Veltliner zu mir nahm, die locker in mich rein gehen, ohne die Wirkung zu haben, die bei anderen zu erwarten ist. [Das meint a jeder.]

Der Traum des Nebukadnezar:  (im Traum kann man alles – und alles sein.)
   Vorgeworfen  ist das Vergangene, vorwerfen (»vor« gibt nur die Richtung an, »werfen« das Ziel). Ist das getroffen, erwartet man die gewollte Wirkung. So einfach sind die einfachen Dinge. 
Daniel deutet Nebukadnezars Traum. Paul Lesire, 1650
   Entre nous: Es hat gewirkt! Wie? Es kam zu einem ernsten Dialog mit meinem Nissan, an den ich weiter gab, was mir gegolten hatte. Der schaute mich mit seinen asiatischen Schlitzaugen an und sagte: »Das Auto fährt, der Mensch, der läuft.« 
   Der Mensch, der trinkt, das Auto säuft. Es säuft somit der fährt! Was ist daran verkehrt? Na ja, nur manchmal ist es umgekehrt. 
   Was ist so falsch daran? »Nun sag, wie man das besser machen kann?«
   »Na, alter Nissan, das ›Umgekehrt‹!« – »Ja habe ich denn dich nicht, wie in einer Sänfte liegend, stets nach Haus gebracht?« sagt da der Silberling, »und ohne eine einzige Beule in nunmehr einem Dutzend Jahren«, fügt er hinzu und wirft einen missmutigen Blick auf jenen Grauling, »der das Ende vor den Anfang setzt, so früher ankommt als er abfährt, den Schall einholend, den er nicht mehr hört, obwohl sein Name ihn dazu verpflichtet«, bricht dann noch aus ihm raus. Der Name verpflichtet? Was meint der nur? Ich frage schüchtern und verlegen. »Der ist doch ein Akademiker, die sagen alles auf ja was, um Himmels willen!«, frag ich nun. Und er sagt: »Horch!«
    Und noch einmal »entre nous«, das tue ich jetzt. Sie hatten ja so Recht!
Audi ist der Imperativ singular von audire (hören, zuhören) und bedeutet »Hör zu!« oder eben »Horch«. Horch war eine berühmte Automarke. August Horch, nach dem sie benannt war, konnte den Namen nach seinem Ausscheiden aus der Fabrik nicht mitnehmen, und so entstand der Name Audi (siehe Wikipedia Audi).

»Herr, ist dieses Leben schön!«, sagte meine Frau manchmal , mit einer Betonung, wie sie nur Schauspielern möglich ist.
 

Abendliches
 

Heut bin ich aus meiner Post geflohen. Es war mir zu laut und zu warm. Was tun? Daheim habe ich keinen Wein, jedenfalls nicht in der mir genehmen Temperatur. 
   Am Dorfanfang, nahe der Autobahn, gibt es ein kleines Hotel mit Restaurant namens Christl. Noch nie war ich dort. »Schau doch mal rein«, denk ich mir, packe mein Ipad untern Arm und fahre hin. Parkplatz vor der Tür, das ist schon mal angenehm. Zwei Schilder, Eingang zur Terrasse, Eingang zum Restaurant zeigen in verschiedne Richtungen. Ich folge dem zum Restaurant. Man schaut den alten Mann mit Stock und Ipad musternd an, »den kennen wir doch nicht« ist den Blicken zu entnehmen. »Die werden dich schon kennen lernen«, denk ich und suche mir einen stillen Platz. 
   So sitze ich in einer Ecke, schaue links in einen schönen Garten, in dem auch Gästetische stehn. Rechts geht der Blick auf den Parkplatz. Mein Nissan steht zehn Meter von mir entfernt; bis dahin schaff ichs immer noch, den Rest macht er, kennt er doch seinen Stall.
   Der Tisch ist eindeckt und gut beleuchtet, die Einrichtung sachlich, die Wände holzgetäfelt, die Atmosphäre gut. Bald wird die Speisekarte gereicht. Alles solide und den Preisen der Post angepasst. Ich bestelle Spargel mit Sauce hollandaise (bald ist die Spargelsaison vorbei, da gilt es sie noch zu nutzen!) 

   Der Spargel ist gut geschält und zubereitet, die Portion keinesfalls zu klein. Siebzig Cent weniger als in der Post. Das ist klug, der Preis eher niedrig, Mehr bekommt man hier halt nicht. Wer mehr ausgeben will und dafür weniger erhält, der muss zum Karner gehen oder zum noch teueren Winkler nach Aschau. Ich bestelle noch ein Dessert, Erdbeeren mit Eis, auch das solide. Jetzt habe ich, da es mir hier gefällt, noch einen grünen Veltliner bestellt.
   Die Gäste hier: gut bürgerlich, darunter wohl ein paar Handelsvertreter, die die Nähe der Autobahn schätzen und die Preise.
   Hier werde ich wohl nicht das letzte Mal sein, denke ich mir, und trinke meinen Abendwein.
   Noch ist meine E-Mail mit diesem Inhalt ohne Empfänger; ich schicke sie erst einmal an mich. Ob ich dann antworten muss? Was sagt man so einem alten verschwenderischen Mann, der seinem Nissan zumutet, ihn heim zu bringen?
 

»Die Venus heiratet heut die Sonne«, mailte mir eine Freundin, die dem Akt zuschauen wollte. Kann ja auch sein, dass sich die beiden schamvoll hinter Wolkendecken verbargen? Die Venus und die Sonne lese ich, und denke, das kann nur auf Lesbos, jener schönen, in Verruf gekommenen Insel geschehen. Viel raus kommen kann ja dabei nicht! Zum Glück für uns, es würde uns wohl doch zu heiß, obwohl das ja seit der Monroe manche mögen. Passend war hier doch auch der unvergessene Schluss “nobody is perfect!”.




Der Wein wird zu warm, ich muss etwas schneller trinken und einen kühleren bestellen. 
   Was sagte wohl jetzt meine Ärztin, die nicht eimal nippen wollte vom guten Tegernseer Bier heute Mittag in Wildenwart? Doch werde ich ihr nicht den Gefallen tun sie »zu besuchen«. Hab ich mir doch all zu gut erklären lassen, wo man sägt und feilt und wie man näht. Nee, den Gefallen tue ich ihr nicht, lieber führe ich sie noch einmal aus, wenn sie es denn will mit so einem ollen Mann. Ich mag sie. Sie ist keine Frau des schnellen Wortes sondern der Tat. Tat? Welcher Art? Der Art der Nächstenliebe mit dem Einsatz ihres Könnens und Wissens – und mit ihrem verborgenen Herz. Am liebsten hätte ich sie jetzt neben mir, nur für ein noch zu findendes Wort, das ihr bekommt; denn das können Worte, sogar gedachte!
   Ach ja, ich vergaß zu sagen, dass zwei Rosen auf neunen Tisch stehen, Echte, schon aufgeblühte, zart rosa, »passt das zu deiner Frau?« frage ich mich. »Ja und nein«, ist meine Antwort; war sie doch eher eine Anemone, wie sie die Länggässer beschrieb. Ach nein, sie [meine Frau] konnte alles sein und alles immer wahrhaftig, denn das war sie!
   Sähe sie mich, so wie ich jetzt lebe, sie wäre glücklich, so wie ich es erst wieder sein werde, wenn wir uns wiedersehen, ein jeder frei, denn der Tod scheidet! Schon jetzt werbe ich um sie und hoffe, daß sie mich erhört.
   Ein wenig verrückt für einen alten Mann? Ja, wer sagt denn, dass ich das bin? Hat man die Wahl, zwischen verrückt oder alt? Oder beidem?


PS. Ein wenig größenwahnsinnig ist sie ja schon, die Venus; so ein Floh – nur ein kleiner schwarzer Punkt – will mit der Sonne sich paaren? Wer nur hat sich sowas ausgedacht? Der Mensch – selber nur Flöhchen auf dem Floh Erde! Es ist zum Flöhn!
   Habs gut überschlafen, schwarze Punkte habe ich doch selber genug, nur schaut sich diese Gott sei Dank niemand mit Periskopen nächtlich an; man hätte auch kein Glück, weiß ich sie doch zu verbergen.
   « O sole mio », singe ich nun und freue mich, dass sie nach einer so anstrengenden Nacht noch ein paar wärmende Strahlen für uns übrig gelassen hat.  


Dazu meint der eifrige Redakteur: Der »Venustransit« wäre auch passiert, wenn auf der Erde nur Marsmenschen wohnten. »Sole mio« ohne Sänger hingegen, das gäb’s nicht … fj

Sonntag, 3. Juni 2012

Wahrscheinlichkeit und die Wachtel am Teller 

Obwohl es trübe geworden ist und ein Regen nicht auszuschließen, bin ich nach Wildenwarth in die königliche Schlosswirtschaft entflohen. Nur zu einem Bier, evtl. einer Kleinigkeit. Mein Ipad ist – wie immer – dabei und auch mein kleiner mobiler Router, der mir die Welt des Internets erschließt.
   Ich sitze unter hohen Bäumen, dicht belaubt mit dicken Stämmen. Die halten einen ersten Regen ab und so die Flucht zum nahe stehenden Nissan.
   Ich werde freundlich begrüßt. Ein Tegernseer Bier und die Speisekarte sind schnell zur Stelle. Speisekarten zu lesen ist immer ein Genuss, obwohl ich ja eigentlich nur ... . Was sehe ich da? Wachtelkotelett mit ... . Ich frage die Bedienung und die – in Person einer charmanten, gut aussehenden Dame, erklärt mir das so genüsslich, dass ich nicht widerstehen kann. Sie empfiehlt es mir als etwas »ganz Besonderes«! Ein Wachtelkotelett! Wachteln kenne ich nur als relativ kleine Vögel, die man allenfalls in Italien servierte. Vor zirka vierzig Jahren erwarben wir – meine Frau und ich – drei Stück davon in Bozen für den Arztfreund von Britting, der solche Delikatessen schätzte. Seine jüdische Frau – eine hervorragende Köchin – war weniger begeistert von solcher Perversität, wie sie das bezeichnete, was ihr zur Zubereitung in die Küche gebracht worden war.
   Inzwischen musste ich doch fliehen, weil Petrus seine Schleusen öffnete. Man hatte mir bereits einen Tisch reserviert in der Jägerstube. Dort sitze ich nun an jenem kleinen Tisch, an dem ich oft mit meiner Frau gesessen bin.
   Hier also wird mir die Wachtel serviert. Der Anblick schon ist ein Genuss! Zu schade zum essen denke ich, doch die Neugier obsiegt. Nun bin ich 92 Jahre alt geworden und erlebe so ein Premiere! Das Ansehen hält nicht nur was es verspricht; köstlich – ganz zartes Fleisch, es ist ein Schenkel und wohl ein Stück vom Brüstchen auf einer Gemüseunterlage gebettet mit einer Sauce, wie man sie so schnell nicht wieder finden wird. Nun bestelle ich mir doch noch ein viertel Veltliner dazu. Zwei Rosen auf dem Tcsh (Reformschreibung? fj) erinnern mich an den gestrigen Abend in der Rohrdorfer Post – doch nicht nur, auch an das schöne Gedicht »Ich sah des Sommers letzte Rose stehn ...«. Ich höre SIE es sprechen. - - -
   Ich muss heim, es wird zu dunkel, das schaffen die alten Augen nicht mehr.
   Es goss wie aus Eimern, und da mich meine Beine so schnell nicht mehr befördern, bekam ich eine schöne Dusche zum Nachtisch. Wie ein Sprengwagen fuhr ich heim, eine Gratisautowäsche. Nun sitze ich unter der Markise auf dem Balkon und höre dem Regen zu. Wie schön ist der Regen! Britting schrieb, nach Aussage von Armin Mohler, die schönsten deutschen Regengedichte.
   Ich werde ein Verschwender, denke ich. Doch dann sah ich die Tagesschau und revidierte meine Meinung. Besser eine Wachtel auf dem Teller, als faules Geld auf einem Bankkonto. »Rien ne va plus«, wird man nun wohl auch bald sagen müssen, wenn es mit unseren Finanzen so weiter geht. Pascal schon beschäftigte sich mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Warum also aufs Wahrscheinliche warten, wenn die Wachteln auf dem Teller liegen?