Mittwoch, 17. Oktober 2012

Philemon und Baucis in Russland

Das Wort Philoxenia, Gastfreundschaft und zugleich Zuneigung zu Fremden, hat mich auf Philemon und Baucis gebracht und zu einem alten Ehepaar im Kriegswinter in Russland. Wann und wo das war, das weiß ich nicht mehr genau. Einzelheiten sind unwichtig, Erinnern und Fantasie vermischen sich. Das Wesentliche aber ist wahr.
   Klagend hoben die Menschen die Hände vor das Gesicht, wenn man als deutscher Soldat in Russland mit ihnen sprach, klagten Woina, Woina, Война, Война, Krieg, Krieg, in dieser gesteigerten, höchsten Ausprägung, viel stärker, als es eine Übersetzung sagt. Nein, Väterchen Stalin mochten sie nicht, doch hatten sie sich eingerichtet in unvorstellbare Bescheidenheit. Dann aber brach der Krieg über ihr Land herein und zwang sie zwischen zwei Gewalten, zwischen denen ihnen bestenfalls das Leben blieb.
   So lebten auch die beiden – von mir so genannten – Philemon und Baucis, als russische Truppen eine deutsche Einheit eingeschlossen hatten, die dem eingebrochenen Winter mit seinen strengen Frösten und Schnee nicht gewachsen war und sich mühsam zu befreien suchte.
   Irgendwo dann, zwischen Kriegsschrott nach Verwertbarem suchend, fanden sie einen im Schnee liegenden deutschen Soldaten. Er schien unverletzt und schlief. Sie sprachen ihn an, er aber reagierte nur verworren und zufrieden lächelnd.
   Den, den sie dort gefunden hatten, das war ich.
Pferdeführer in Schneesturm
Ostfront 15. 1. 1942
Foto Lachmann, Bundesarchiv

   Was vorher mit mir geschehen war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur daran noch, dass ich zu Tode erschöpft von meinen Kameraden auf einen Panjewagen gelegt worden war, der unter Beschuss geraten und umgestürzt war, und ich dann einen Hang hinunter rollte in ein herrlich weißes Bett aus Pulverschnee. Dort muss ich in tiefen Schlaf gefallen sein.
   Sehr lange kann es nicht gewesen seien, dass ich so selig geschlafen hatte, denn sonst hätte man mich nur noch erstarrt gefunden. So aber erwachte ich, sehr verwundert, auf Fellen liegend, eine Holzdecke knapp über meinem Kopf. (Ich lag auf einem der typischen Öfen in Russland – ähnlich denen in alten Bauerhäusern hier. Der Abstand zur hölzernen Decke dürfte höchstens einen Meter betragen haben.) Wo bist du?, fragte ich mich, als ich das Gackern von Hühnern unter mir hörte. Als ich mich aufrichten wollte, sah ich in das faltige Gesicht einer Frau. Sie sprach russisch auf mich ein, bot mir in einem tassenähnlichen Gefäß dampfende Flüssigkeit, die rot war wie Karmesin, und deutete mir an: trinken, trinken! Nach meinem fragenden und wohl auch etwas misstrauischen Blick eilte sie davon und kam mit der Scherbe eines Spiegels zurück, den sie mir vors Gesicht hielt. Was ich dort sah, war ein gelber Kerl in desolatem Zustand (Gelbsucht). So fühlte ich mich auch. Ich schlief bald wieder ein, irgendwelcher Sorgen um mein Wie, Wo, Was nicht gedenkend. Von Philmon, einem alten zahnlosen Man mit liebenswürdigem Gesicht und kleinen glänzenden Augen, die ein wenig mongolisch aussahen, wurde ich geweckt zu einer bescheidenen Mahlzeit. Und immer wieder verfiel ich in tiefen Schlaf, bis ich irgendwann von Philemon erregt geweckt wurde mit den Worten Ruski, Ruski. (Ruski rief er, weil Russen deutsche Truppen vor sich hertrieben, und er verhindern wollte, dass ich ihnen in die Hände fiele.) Als ich vor die Türe trat, sah ich deutsche Truppen, darunter eine Zugmaschine, von der mir erregt und erfreut ein Feldwebel zurief: Komm, wir brechen aus!
   Der Durchbruch aus dem Kessel gelang, wenn auch unter Beschuss, so doch mit Erfolg.
   Was dann geschah, ist eine andere Geschichte. Auf jeden Fall wurde ich vom Feldarzt sofort in einen Zug in Richtung Heimat beordert und landete schließlich in einem Lazarett in Lemberg.
   »Philemon und Baucis« hatten mir nicht nur Gastfreundschaft, Philoxenia, erwiesen, sie hatten mir das Leben gerettet.
   Ich werde sie nie vergessen!