Freitag, 29. Juni 2012




Liebe Marion, jetzt habe ich schon die Kraniche an den Chiemsee gedichtet. Auch diese waren einst Boten, wenn auch nicht hermesgleich, so doch Überbringer negativer Botschaft. Das ist nachfolgend korrigiert. Hinzu kamen noch ein paar Ausschmückungen (Lichter aufsetzen nennt man das).


Begegnung am Chiemsee 

Liebe Marion,
   heute Vormittag ereichte mich der Anruf einer Frau, die ich erst im April durch Fritz Jörn kennen gelernt hatte. Wir hatten uns zweimal getroffen, und es gab gute Gespräche und gegenseitige Sympathie. Ich nannte sie sogleich bei ihrem Vornamen Helga, was sonst nicht meine Art ist. Ihr Schicksal hatte mich berührt, sie hat alle Angehörigen verloren, darunter ihren Vater, der bei einem Autounfall ums Leben kam. Das Auto hatte sie gesteuert, und erst nach einem dreijährigen Prozess wurde sie von der Anklage der fahrlässigen Tötung freigesprochen. 
   Sie sieht gut aus, hat aber keinen Mann abbekommen. Ob sie zu anspruchsvoll war oder was immer es auch für Gründe gewesen sein mögen, für diesen Zustand, das weiss ich nicht. Sie ist intelligent, offensichtlich aus gutem Haus, hat aber verständlicherweise ein weinig stabiles Seelenkorsett. Auch auf ihre Gesundheit scheint sie nicht mit der angebrachten Gelassenheit und Selbstvertrauen zu achten, zum Wohl der Ärzte. 
   Sie also rief mich an, um sich mit mir zu verabreden. Weite Strecken fährt sie nicht mehr mit ihrem Auto, und da sie in Staudach wohnt, verabredeten wir ein Treffen in einer Gastwirtschaft am Chiemsee in der Nähe von Übersee-Feldwies. 
   Dort trafen wir uns ein weinig verspätet, da ich das Lokal  nicht gleich gefunden hatte. Es ist ein wundervoller Platz am Ostufer des Chiemsees, wo man unter hohen Bäumen direkt am Ufer sitzt, mit dem Blick auf die westlich vorgelagerten Inseln, die Herren und die Fraueninsel, mit der dazwischen liegenden Krautinsel, die nicht bewohnt ist. 
   Ein bissl fremdeln war bald überwunden, und ich erfreute mich ihrer guten Sprache und Stimme. Mein immer vorhandenen Optimismus und meine Lebensfreude mit der mir verliehenen Gnade des Parlierens wirkte ganz offensichlich positiv, was dazu beitrug, den Tag zu verschönen. 
   Mir gefiel es nicht ganz, da der Aufenthalt in so schöner Umgebung die Konzentration aufs Gespräch mindert. Dazu kommt, das es für den Ipad einfach zu hell ist, und auf dem befindet sich doch immer etwas, was zur Unterhaltung beiträgt. So konnte ich die Neugier nur auf Themen für die Wiederholung eines Treffens lenken, bei der sie mich dann auch Hans nennen wird, wie wir das zum Abschied beschlossen.
   Sie ist ganz untechnisch, es reicht bei ihr zuhause gerade noch bis zum Telefon. Damit ergeben sich ganz andere Perspektiven der Kommunikation, weil ich ungern telefoniere. Also Dialog. 
   Warum schreibe ich Dir das, liebe Marion? Weil Du mir eine so gute und liebe Freundin bist, der ich gerne mitteile, was ich erlebe. Natürlich sind das keine Amouren, aber es sind halt doch Begegnungen zwischen Mann und Frau, und die sind immer anders als die mit Männern, so es denn noch solche gibt.
   Übrigens war die Bedienerin so reizvoll und aufmerksam, dass sich schon deswegen ein Besuch dort lohnte. Wäre ich jünger, zur Abendzeit, wenn die Sonne im Chiemsee versinkt und den See in rote Farbe aller Schattierungen und Nuancen taucht, wenn die Kormorane aus dem Delta der Tiroler Ache ihr Nester aufgesucht haben, wenn an den Ufern des Sees sich tausend Lichter entzünden und sich flimmernd im Schwarz des Wassers spiegeln, wenn dann der Mond sein silbernes Licht mit der Kühle der Nacht mischt, wenn das Windlicht brennt, die Gespräche verstummen, wenn nur noch der Wein sonnengold und verführerisch funkelt? Wie wärs? ... wenn ich junger wär, um den Satz zu beenden, nicht aber den Gedanken, glüht solcher doch auch in einem alten Herz, nach anderem Verlangen, als dem der Jugend aber nicht weniger schön.


   Aber ich kann in der Nacht nicht mehr fahren, müsste also dort übernachten oder eine Freundin mit Auto haben.–
Hermes (Wikipedia)
   Ach, zwei Frauen sind es nun, die mir von solchen Abenden hier am Chiemsee mit ihren alten Müttern erzählten, die eine ist jene Helga, die andere Frau Halmer, deren Mutter dort in einem nahe gelegenen Altersheim lebte. Beide Mütter sind tot, sind im Hades, den ja auch Dein Hermes*) kannte; denke nur an Orpheus und Euridike! Der Hermes ist der Gott der Kaufleute und der Diebe, lies mal in Wikipedia nach, was der Kerl sonst noch alles so trieb. Wenn schon griechische Mythologie, dann wüsste ich was Besseres für Dich – aber eben nur Besseres, was ja noch nicht Gutes ist. Und: Wenn schon der Hermes ein Götterbote ist, was bin dann ich? Ist doch für einen jeden der Bote willkommen, der das verkündet, was man sich wünscht. Doch was wünscht man sich denn wirklich, wenn’s nicht gerade das Opportune ist? –
   Was Du vom Streit#) und den ehelichen Belastungen des Alltags schreibst, ja, Marion, leider ist das so! Man kann es aber überwinden, wenn man die Schuld – die ja fast immer bei beiden liegt – zuerst bei sich selbst sucht, und so zur schnellen Versöhnung bereit ist.
   Was gibt es übrigens Schöneres als Versöhnung? Wer ganz raffiniert ist, fängt schon deshalb einen Streit an! Ja, das bleibt mir nun versagt – aber schön war es ja doch jedesmal, die Versöhnung!
   Nun aber heißt es zu Bett zu gehen. Staatstrauer ist angesagt erfuhr ich gerade, wenigstens drei Tage. Und wehe dem, der jetzt noch nach Italien fährt.
   Wir jedenfalls, liebe Marion, bleiben am Ball, selbst wenn wir mal im Abseits stehn! Weisst Du was das ist?
   Bald einmal verrät Dir das, Dein alter  (aber jünger werdender) Hans.

*) Marion hatte Hermes in einem Brief als ihren Götterboten bezeichnet.
#) Es handelt sich um ehelichen Streit im allgemeinen Sinn, also keinem speziellen, von dem hier die Rede ist.