Samstag, 29. Dezember 2012

Mond über Bozen. Blick aus dem Küchenfenster. Foto Jörn
Mondnacht auf dem Lande

Dort steht der erste Stern.
Es hört zu schneien auf
Der Mond kommt auch herauf
Wir sehn ihn gern,

Den goldnen Mann,
Der uns gefällt.
Als Wächter ist er uns bestellt.
Still geht er seine Bahn.
Die Nacht fängt an.

Die dauert lang.
Nun dreht die Uhr im Schneckengang
Die Zeiger um das Zifferblatt.
Mit dunklem Klang
Sagt jede volle Stund sich an.

Die Eul fliegt aus auf Mäusefang.
Wer liebt, hat seinen Platz gefunden.
Gesegnet, wer gut schlafen kann!

O Uhrenschlag,
O Frag und Klag
Durch viele schwarze Stunden
Bis zum weißen Tag.

   Georg Britting

–––––––––––––––––––––––––––– 

Für’s neue Jahr

Durch viele schwarzen Stunden
Im nun vergehenden Jahr,
Hat mancher sich geschunden
Und schließlich doch befunden,
Dass es ein gutes war.

So habt in gleicher Weise
für’s neue Jahr Geduld,
Das wünscht mit dieser Mondnacht
euch euer
   Hans-Joachim Schuldt.

–––––––––––––––––––––––––––– 

Wenn wir schon dabei sind. Die bekannteste Mondnacht ist, wenn überhaupt, die Eichendorffs. Doch wozu Mond zum Jahreswechsel? Raketen und frohe Gedanken, Glück zu leben, zu erleben, da zu sein, noch, in dieser gar nicht so schlechten Welt. Ob im Himmel alles besser ist? Egal: Das sehen wir später. Fritz Jörn

– So konnte das wohl nicht stehen bleiben. Es folgen also »mailwendend« Postsribenden vom Autor.

––––––––––––––––––––––––––––
Ich kenne bessere Mondgedichte – nicht nur von Britting!
   Aber vielleicht muss man noch ein wenig an der »Romantik« hängen. Dafür bin ich zu jung!
Zum »Wozu« ein Brittingsches Mondgedicht als Antwort:

Der Mond

Auch wenn er,
Immer zu seiner Frist,
Rund und voll ist, der Mond,
Und das nimmt er genau,
So genau, dass man die Zeit danach misst,
Ist er nicht immer gleich groß.
 

Wenn ein dunstiger Tag sich senkt, da,
Über die Waldschlucht, steigt er herauf,
Riesig und nah,
Rötlich dämmernd, und deckt
Das halbe Himmelsgewölb.
Und der Hirsch, der im Tann sich versteckt
Hielt, tritt hervor, friedlich beglänzt,
Und neigt
Äsend das Haupt.


Aber wenn er im kalten Winter sich zeigt,
Ist er klein und weiß,
Wie eine Lampe aus Eis
Hoch in die frierende Bläue gestellt.
Furchtlos durchwandert sein Licht
Die fremden Bereiche
Der oberen Welt.
 

Und ist doch immer der gleiche,
Der unsere Nächte erhellt,
Und uns und unseren Vätern
Seit tausend Jahren gefällt.
Das tut er wohl auch noch den Spätern.


Soweit der Dichter. Unzeitgemäß schön empfinden wir Heutige das Gedicht, jedenfalls gewisse Stellen mit im Tann sich versteckenden Hirschen. Das Stich- und Reizwort »Romantik« hatte sogar Hans-Joachim Schuldt in Anführungszeichen gesetzt. Was tut’s: Nehmen wir uns heraus, was uns gefällt, wir »Spätern«. fj

Und zur »gar nicht so schlechten Welt!« – In der Tat, schlechter ist sie kaum vorstellbar! Ob es im Himmel besser ist, kann nur beantworten, wer schon einmal hinein geschaut hat und überhaupt weiß, welchen Himmel er meint. Der unseres Mondes ist fast irdisch, und hätten wir ihn nicht, diesen Mond, unsere Erde würde taumeln, mehr als so mancher nach der Silvesternacht. (Das ist was für Pysiker!)
   Muss man ihn nicht loben, den alten Mond – auch und gerade – in einer Mondnacht des Jahreswechsels?
Das erwähnte »Glück zu leben und gute Gedanken«, sind der Anlass zu diesen Zeilen. Und der Wunsch, solche Gedanken mit Ihnen noch lange teilen zu können – Ihr alter Hans-Joachim Schuldt


Wie bei jeder Erwiderung hat stets die Redaktion die Möglichkeit des letzten Wortes. Ich nutze das, respektlos vor Alter (93 vs. 71) und Autor (Britting-Kenner vs. Elektrotechniker).
   Und bleibe dabei, dass die heutige Welt (über die auch ich gern schimpfe …), jedenfalls für uns hier, eine sehr schöne, sehr gute, noch nie so gut dagewesene ist. Die Empfindung ist subjektiv, Beispiele sind kein Beweis, also rate ich einfach nur, sie einfach einmal so gut zu sehen. Dem Blick öffnet sich dann eine weite Flur des Glückes.
   Übrigens taumelt die Erde tatsächlich ein wenig, des Mondes halber, wie ein Tänzer, der statt einer einsamen Pirouette Ringelreihen tanzt mit einem kleinen Mädchen. Ohne etwas Taumel geht das nicht, wenn sich zwei Massen zusammen drehen. Wichtiger sind alle anderen Mondwirkungen auf die Erde, hier in der Wikipedia gut nachzulesen. fj 

Ach, lieber Herr Jörn, verzeihen Sie Ihrem all zu jugendlichem Freund, dass sein Herz voll ist und der Emails gar viele! So kann ich es nicht lassen, zum Thema des Vergänglichen, das ja der wesentliche Inhalt von Eichendorffs Mondscheingedicht ist, Ihnen »Nänie« von Friedrich Schiller zu schicken, das mich vom Stuhl reißt, wenn ich es in den schönsten Hexametern laut lese! Ich möchte ja nicht falsch verstanden werden mit meinem kühnen Wort, dass es bessere »flügelausbreitende und seelenwandernde« (oh, mir wir übel!) traueranzeigenrelevanteste Mondgedichte als das von Ihnen genannte gibt – so absolut nicht mit dem Brittingschen konvertierenden!
 

Nänie
 

Auch das Schöne muss sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.
Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.
Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,
Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt.
Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,
Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinen alle,
Dass das Schöne vergeht, dass das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich,
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
 

Auch Schiller musste früh sterben. »Wen die Götter lieben, lassen sie jung sterben!« Dass ich noch lebe, ist ein Beweis, mich liebten die Götter nie! Aber was für ein Gedicht ist das!
   Es grüßt Sie Ihr enthusiastischer, noch himmelwärts stürmen könnender junger Hans-Joachim Schuldt 

Dienstag, 18. Dezember 2012

Hilf Himmel, die Navi!

Liebe, treue Frau Ixypsilon,
   es ist schon ein sehr seltenes Ereignis, von dem, was man früher Post genannt hatte, heutzutage einen schönen handgeschriebenen Brief zu erhalten, mit einer Marke darauf: »alleinerziehende Mutter mit Kind!« – Sondermarke »sixtinische Madonna«. (So »alleinerziehend« war sie gar nicht, obwohl sie bei Raffael jung und traurig aussieht – das Bild ist klickbar. Adoptivvater Joseph hat sicher tüchtig geholfen, auf der Flucht. Er ist übrigens nicht der alte Herr links im Bild. – fj)
Begeistert sehen die beiden nicht aus. Foto Wikipedia
   Doch o weh, es fehlt die Frau, die solche meisterhafte, feine Handschrift lesen könnte. Eine starke Lupe muss sie ersetzen; sie tut es auch, und ich lese mit Vergnügen Ihre zarte, schöne Schrift! Und aus den schön geschwungenen Zeilen fließt ein goldner Strom von Wärme, wie es das gedruckte Wort nicht vermitteln kann. Die Atmosphäre der Stube wird spürbar, in der wir einst Ihre Gastfreundschaft genossen, und aus der Küche strömt ein erwartungsvoller Duft! Ihr Mann hat längst ein Glas vom besten seiner auserwählten Weine kredenzt und weiß das Gewicht der Gespräche zu bestimmen. Wir sehen uns an und fühlen uns wohl!
   Wie in Brittings Gedicht »Vor dem Gewitter«, darf in allem auch etwas Bitteres sein, in Ihrem Brief das Schicksal Ihres Schwagers.
   Wenn der Kopf versagt, ist es besser man stirbt – das habe ich leidvoll erfahren und ertragen müssen bei meiner lieben Frau. Sie kommen doch alle wieder! Der Bauplan eines jeden Menschen ist bis in alles Einzelheiten in einer genetischen Datenbank gespeichert (ja, jedes Haar auf deinem Haupt ist gezählt! – Lk 12,7Lk 21,18), in einem verächtlich Lappen genannten Abfallprodukt unserer Zellkerne, Kerne, die zusammen eine technische Leistung vollbringen, die alles an unserer technisch so fortgeschrittenen Zeit weit in den Schatten stellen.
   »Das Zeug verbrennt oder verfault, je nachdem, wie wir uns begraben lassen«, sagte mir vor einigen Tagen ein sehr gebildeter Säkularisierter.
   Schon tönte aus seinem Auto-Lautsprecher die Warnung: »Halten Sie sich in der rechten Spur und verlassen Sie nach fünfhundert Metern die Autobahn, wir führen Sie mit einer Umleitung um ein gesperrtes Autobahnstück.« Nach zwanzig Minuten wurden wir wieder sicher auf die Autobahn zurückgeleitet. »Sehen Sie«, sagte er etwas hochmütig, »auf so was kann man sich verlassen!« Ich gebe es zu.
   Ich war sprachlos und konnte mir das beim besten Willen nicht erklären. Also fragte ich schließlich: »Woher wissen die denn so genau, wo wir sind?» – »Vom Himmi drob’n«, sagte der unfromme Mann und zeigte mit dem Daumen in die entsprechende Richtung. Ich staunte noch mehr! »Und das alles ohne auch nur einen einzigen Draht?«, fragte ich weiter. »Na ja, da kreisen im Himmel halt so Dinger umeinander, die sehen uns!« »Ja, sind das denn Engel?«, wollte ich wissen, wird doch immer gesagt, Gott sieht alles. Ich erhielt aber nur ein missmutiges langgezognes: »Naaa! – Sant Satelliten, die schiessan’ s in Himmi eini, und dena müssma sag’n, wohin wir woll’n.«
   Aus dem Lautsprecher ertönt wieder die Stimme: »Sie sind vom Wege abgekommen. Bitte folgen sie unseren Anweisungen!« 
   »Da legst di nieder«, denk ich (Denken kann ich schon etwas Bayrisch, reden weniger – fj), »nicht amal vom Weg abweichen derf man bei dena«. Wenn’s nun aber um die drahtlose Übertragung von ein paar Daten zu Satelliten anderer Bauart als der menschlichen geht,  hört’s Glauben auf einmal auf. Das versteh’ ein anderer!
   Kurz vor Salzburg erreichte uns die Nachricht: »Schlechter Satellitenempfang durch kosmische Störungen«, was von meinem Freund mit dem zum bayerischen Hochdeutsch gehörenden Satz »da leckst mi am Arsch« quittiert wurde. (Politisch korrekt wäre gewesen: »Da legst’ di nieder!« – fj).
   Wir kamen trotzdem an! Aber von Engeln und solchen Quatsch wollte mein Freund an diesem Abend nichts mehr hören. Er hatte sein Navi abgestellt und einen »Engel« im Visier.
   Nun, ich merke schon, das wird kein Weihnachtsbrief! Solche schreibe ich ja auch nicht. Aber ist nicht die Hoffnung, Verstorbene wieder zu sehen, durch das Gesagte ein wenig bekräftigt worden?
   Für mich hat diese Botschaft etwas außerordentlich Tröstliches, zumal wir die Verstorbenen in dem Zustand wieder sehen werden, der ihrem Höhepunkt entspricht, und das dazu noch in einer richtigen Welt. Da wird sich erfüllt haben, was Jesaja prophezeite. Es wird eine Welt kommen, um die die Christen so lange gebetet hatten, eine, in der wir den Krieg nicht mehr lernen und unsere Schwerter endlich zu Pflugscharen umgeschmiedet haben werden. (Der populäre Passus: »Sie werden den Krieg nicht mehr lernen« geht auf einige Übersetzungen des Endes von Jes. 2,4 zurück: »Man … übt nicht mehr für den Krieg«, »… sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen«)

Sie fragen, wie es mir geht, liebe Frau Ixypsilon. Mir geht es sehr gut, jedoch liege ich mit einer Erkältung im Bett und diktiere diese Zeilen meinem Ipad. (Darum hat auch der kleine Redakteur hier so viel zurechtzufummeln. – fj.) Das aber ist kein Grund zur Klage (gewiss nicht!)! Mein Geist ist jung, der Körper verschlissen und alt, wird aber so ertragen und leistet immer noch das Notwendige und teilweise sogar mehr! Was ich nach dem Tod meiner Frau alles erlebt habe und erlebe, klingt wie ein Märchenbuch, wäre es aufgeschrieben. Sie, die Sie sich darum Sorgen machten, wären glücklich und würden sagen, was in einer militärischen Beurteilung über mich einmal geschrieben wurde: »Schuldt weiß sich in jeder Lebenssituation zu helfen!«
   Jetzt werde ich von meinem Bett aus drahtlos einen Befehl an meinen Fax-Drucker schicken. Nur konventionelle Briefe falten und kuvertieren kann er noch nicht. Trotzdem wird die Nachricht schon bald gedruckt (gefaxt) auf Ihrem Tisch liegen.
   »So a Schmarrn, so an saudamischer«, würde mein Freund nun sagen, wären wir hundert Jahre jünger!
   Es grüßt ganz herzlich
Ihr alter Hans-Joachim Schuldt

Und hier meldet sich postscribendo der Redakteur, seinerseits Techniker und andererseits des Oberbayrischen mächtig. 
   Also die Navigationsatelliten des GPS, Global Positioning System, strahlen ganz genaue – und ganz schwache Orts- und Zeitsignale aus: ihren Ort, ihre Zeit. Mehr tun sie nicht. Sie führen uns nicht, sie steuern uns nicht. Da hätten’s viel zu tun! Sie funken bloß, wie die Sternlein funkeln. Das Navigationssystem (»Navi«) im Auto trianguliert sich aus den Satellitensignalen seinen genauen Ort, misst sozusagen den Abstand von jedem Satelliten und zeichnet sich danach auf seiner gespeicherten Landkarte ein. Die Navigationsgeräte funken nicht, schon gar nicht gen Himmel. Für die Ortung gilt: Satellit passiv, Navi aktiv am Rechnen.
   Manch einer meint, mit dem lieben Gott sei’s ebenso. Der funkt nur ganz leise; und eingreifen hernieden, das tut er gar nicht, oder? Was der Mensch draus macht, ist seine Sache. Vor allem seine Vorstellung vom Himmel, die schwankt, d.h. variiert. Schwanken tut sie auch, weil immer weniger daran glauben. Doch da will ich mich jetzt nicht einmischen. 
   Bloß des: »Damisch« nennt man etwas Verrücktes, nicht hingegen rein Erstaunliches. Ein Schmarren – ein Dysphemismus – ist es nicht, wenn einer vom Krankenbett aus faxen kann, und nicht bloß solche machen. Also ist’s auch nicht damisch. Situationsgerechter möchte wohl wieder das »Da legst di nieder« sein, als Ausdruck reinen, ungläubigen Staunens.

Samstag, 8. Dezember 2012

Rhein in Bonn, 7. 12. 12 (Foto Jörn)
Kleiner Kommentar:
»Am nächsten Tag mag’s schneien,
und dann am übernächsten
die Sonne wieder scheinen!«
 

Dezembermorgen

Nun endlich ist es Morgen –
Des Nebels graue Schleier
Verhüllen nicht die Sorgen,
Und auch die dünne Decke
Des neuen Schnees verbirgt sie nicht.

Weiß - aus den Kaminen - steigt der Rauch, Verschwimmt im Grau des Himmels.
Und in den warmen Stuben
- so will es auch der Brauch -
Bereitet man sich vor
Zu einem Fest,
Das seinen Sinn schon lang verlor.

Die Tage sind nur kurz
Und eh man sich versieht,
Bricht an die Nacht.
Was wohl am nächsten Tag geschieht? —
Ach, denkt nicht dran!
Genieß den Tag, den kurzen
Und sage für ihn Dank!

                          Hans-Joachim Schuldt

Sonntag, 18. November 2012

Hintersinnige Gedanken zu Pferdedroschken

Mir fällt dabei sogleich meine Berliner Kinderzeit ein. Da gab es noch Pferdedroschken. Dort wo ich wohnte, gab’s eine Haltestelle. Das waren nicht solche, wie wir sie heute von der Tram oder vom Bus her kennen, es waren solche, wo die Droschken standen und auf Fahrgäste warteten, wie Taxistandplätze inzwischen.
1902 – http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Ross_und_Schnauferl_Die_Woche_1902.jpg
   Die Kutscher saßen zumeist auf ihrem hohen Bock und schliefen.
   Den Pferden war ein Sack mit Hafer gefüllt um den Hals gebunden, aus dem sie fraßen.Zum Saufen gab es eine große Pumpe aus Gusseisen, zu deren Füßen sich ein Granitbecken befand, in dem sich das Wasser sammelte. Das war an heißen Sommertagen ein Badeplatz für Scharen von Spatzen - einer Vogelart, die für Berlin wie geschaffen und symbolisch war. Frech, schnell und immer bereit zu wildem Spiel und rascher Beute. So ließen sie denn auch keinen Blick vom Hinterteil der Pferde abschweifen, deren köstlichstes  Signal - wie das Öffnen eines Bühnenvorhangs - das Heben des Pferdeschwanzes war.
1546. Vincenzo Rustici. Sfilata delle Contrade in Piazza del Campo
    Ach, auch im Dom von Siena war das so, in dem die Pferde vor dem zweimal jährlich stattfindendem Palio versammelt wurden, um gesegnet zu werden zu jenem Rennen auf dem schönsten Platz der Welt – den Markusplatz von Venedig ausgenommen – wo hier nicht Spatzen, sondern Pferdebesitzern nur auf das Ereignis des Hebens des Schwanzes warteten, um dem alles krönenden Ereignis entgegen zu fiebern, dem Öffnen des Schließmuskels und dem Hervortreten der gelb dampfenden Pracht, die für die einen eine delikate, warme Mahlzeit bedeutete, für die anderen den sicheren Sieg beim Palio!
   Die Motortaxis haben diesem lieblichen Spiel ein Ende bereitet, und dem Palio wohl die Formel 1 oder Computerspiele.
   Arm gewordene, desillusionierte Welt!
   Immer will man das Naheliegende haben und bekommt am Ende doch nur, was dabei hinten raus kommt!

Donnerstag, 1. November 2012

An Erika

mit Kummer sah ich deine verbundene Hand,
bis endlich ich verstand,
dass du vom Finger hast dir abgeschnitten,
eine Stückchen nur – und hast gelitten!

Mir fiel die Magd nun dabei ein,
die sich aus schlimmer Liebespein,
betäuben suchte Schmerz mit Schmerz,
betrogen hatte gar ihr Herz.

Mit tränennassen Augen
sie hauchte ihre Finger an,
das aber konnt’ nicht taugen,
zu stillen Schmerz und Liebeswahn.

Ich denk an dich,
behauche deinen Finger,
doch tu dann sowas nicht,
nie mehr und nimmer!

Dein ach so alter Hans,
ein Glaserl Wein mit dir nun leerte ganz.
Der arme Robert kann das nicht,
so steh’ ich denn in der Pflicht!

Foto Schuldt


An Marion

Nicht aus dem Haus kann die Natur mich locken,
bleib ich doch lieber in der Stube hocken,
am warmen Ofen und bei einem kühlen Wein,
denkt man ganz still: muss halt so sein.

Schon bald die Tage werden wieder länger,
Ade dann Winter, du all zu strenger.
Wenn sich die Bäume wieder ziehen an
zieh’n wir uns wieder aus – soweit man kann!

Schon finster ist es, obwohl noch nicht sechs Uhr,
da bleibt die Flucht in meine Post mir nur!
Dort werd ich meine Wollwürst essen,
beim Messwein dann den Tag vergessen.

Es grüßt der Hans dich (und denkt dabei so dann)
ganz herzlich – (so lange er’s noch kann.)

An eine Frau

Sie, Verehrteste, saßen beim Griechen am Tisch und neben mir. Wir kamen ins Gespräch. Sie hatten sehr schnell erkannt, was ich bin, und Sie ließen ihr Mittagsmahl kalt werden, zu Gunsten unseres Gesprächs. Mich alten Mann hat das beglückt!
   Dabei fällt mir eine Geschichte ein, die ich in Berlin erlebt habe.
   Es gab in der Leibnitzstraße ein kleines Lokal, den Namen weiß ich nicht mehr, in dem man recht gut essen konnte und sehr intim verkehren konnte, wobei ich intim nicht falsch verstanden wissen möchte*).
   Ich hatte in der Nachbarschaft ein kleines Geschäft aufgebaut und freute mich, am Abend dort in Ruhe zu essen und einen Wein zu trinken. Dort saß ich einmal alleine, als sich eine Dame an meinem Nebentisch setzte. Es fiel mir auf, dass man sie bevorzugt gut bediente. Sie sah sehr angestrengt, ja gar etwas traurig aus, was mich beeindruckte. Sie fragte mich, nach einer Zeit, etwas Belangloses, und schaute mich etwas erstaunt an, als ich ihr unbelastet Antwort gab. Hatte ich doch nicht erkannt, dass es sich um die berühmte Callas handelte, die dort anonym bleiben wollte. Mich hatte sie an jene junge Schauspielerinnen erinnert, in die ich mich verliebt hatte, an Ingeborg Fröhlich, die im Schillertheater engagiert war, und abends, wenn sich der Vorhang längst gesenkt hatte, nicht »aus Ihrer Rolle kam«, hatte sie sich doch mit der von ihr dargestellten Person vollkommen identifiziert. »Ausatmen« hatte ich das immer benannt und ihr dabei durch meine Gegenwart geholfen.
   So saß ich neben der berühmten Callas, und vielleicht hatte sie das gesucht, was ich Ingeborg Fröhlich hatte geben können. In Callas’ Memoiren  wird man mich nicht finden. Die Erinnerung ist mehr und sie ist weniger - ein Highlight könnte man heute sagen, eine kleine Sternstunde im Lebens!

*) zum Thema intim und dem früheren Sprachgebrauch


Danilo (in Lehárs Lustiger Witwe):

O Vaterland du machst bei Tag
Mir schon genügend Müh und Plag!
Die Nacht braucht jeder Diplomat
Doch meistenteils für sich privat!
Um Eins bin ich schon im Büro,
Doch bin ich gleich drauf anderswo,
Weil man den ganzen lieben Tag   
Nicht immer im Büro sein mag!
Erstatte ich beim Chef Bericht   
So tu’ ich meistens selber nicht,
Die Sprechstund’ halt’ ich niemals ein,
Ein Diplomat muss schweigsam sein!
Die Akten häufen sich bei mir,
Ich finde ’s gibt zu viel Papier
Ich tauch die Feder selten ein
Und komm doch in die Tint’ hinein!
Kein Wunder wenn man so viel tut,
Dass man am Abend gerne ruht,
Und sich bei Nacht, was man so nennt,
Erholung nach der Arbeit gönnt!
Da geh ich zu Maxim,
Dort bin ich sehr intim,
Ich duze alle Damen
Ruf' sie beim Kosenamen,
Lolo, Dodo, Joujou
Clocio, Margot, Froufrou,
Sie lassen mich vergessen
Das teu're Vaterland!
Dann wird champagnisiert,
Und häufig pamponiert, (cancaniert)
Und geht's an's Kosen, Küssen
Mit allen diesen Süssen;
Lolo, Dodo, Joujou
Clocio, Margot, Froufrou,
Dann kann ich leicht vergessen

Libretto Victor Léon und Leo Stein 

Mittwoch, 31. Oktober 2012


   Der Mond

Auch wenn er,
Immer zu seiner Frist,
Rund und voll ist, der Mond,
Und das nimmt er genau,
So genau, dass man die Zeit danach misst, 
Ist er nicht immer gleich groß.

Wenn ein dunstiger Tag sich senkt, da, 
Über die Waldschlucht, steigt er herauf, 
Riesig und nah,
Rötlich dämmernd, und deckt
Das halbe Himmelsgewölb.
Und der Hirsch, der im Tann sich versteckt
Hielt, tritt hervor, friedlich beglänzt,
Und neigt
Äsend das Haupt.

Aber wenn er im kalten Winter sich zeigt, 
Ist er klein und weiß,
Wie eine Lampe aus Eis
Hoch in die frierende Bläue gestellt.
Furchtlos durchwandert sein Licht
Die fremden Bereiche
Der oberen Welt.

Und ist doch immer der gleiche,
Der unsere Nächte erhellt,
Und uns und unseren Vätern
Seit tausend Jahren gefällt.
Das tut er wohl auch noch den Spätern.

Georg Britting, Sämtliche Werke - Rabe, Ross und Hahn - Band 2, Seite 185
© Georg-Britting-Stiftung - Alle Rechte vorbehalten. Zu den Rechten.
Auf http://www.britting.de/gedichte/2%20Rarbe%20Ross%20und%20Hahn.pdf#page=67

Dazu findet der fleißige »Redakteur« diese Anmerkung von einem »Koschutnig«, hier, auf die Frage, ob das Gedicht expressionistisch sei: »Als Britting das Gedicht verfasste – Erstdruck 1941 unter dem Titel Der Mond  im Münchner Lesebogen,  Nr. 66, S. 8 –, das dann 1942 im besetzten Polen in der Krakauer Zeitung (Nr. 136, 11. 6. 1942.) unter dem Titel Der Mond kommt jetzt sehr früh herauf nochmals abgedruckt wurde,  war der Expressionismus, dem er [Britting] vor der Machtergreifung der Nazis angehörte, längst als ›entartete Kunst‹  völlig verpönt! Selbst wenn man das Gedicht nicht kennt, ergibt sich allein aus dieser  Tatsache schlüssig, dass das Gedicht nicht expressionistisch sein kann:  Ein deutscher Redakteur in Krakau wäre vermutlich in einer Strafkompanie oder gar  im KZ gelandet,  hätte er ein expressionistisches, ›entartetes‹ Gedicht gedruckt! Auch aus der kompletten und unversehrten Sprache des Gedichts ist zu erkennen, dass da keine geballten Gefühlsausbrüche stattfinden. Willst du es irgendwo ansiedeln, so kannst du es immerhin dem weiten Bereich eines magischen Realismus  zuordnen, in man den späteren Britting wie eine Anzahl anderer schwer schubladisierbarer Dichter gerne einreiht.«

Das Mondvideo finden Sie auf http://youtu.be/rFnnYhTMGS8. Dazu schreibt Forrest Tanaka: »I photographed the moon with a DSLR [Digital Single Lens Reflex, digitalen Spiegelreflexkamera] on a 4" [4 Zoll = ca. 10 cm] Maksutov-Cassegrain telescope each night for a lunar month, from the full moon on January 8 through February 5, 2012. I adjusted all their exposures, angles, and positions in the frame in post-processing, then merged each image using morphing software to make the transitions smoother and to take care of the moon’s libration (wobble during orbit). I combined all these into one video for the complete month. I did miss a day here and there because of cloud cover. – To see how I created this, read my blog post.

Freitag, 26. Oktober 2012

Physiotherapie oder »Ein Sonnenstrahl«


   Der Tag begann so trübe wie ist das Wetter
   Wie konnte es auch anders sein, da sich der Sommer schon lange verabschiedet hatte und nun sich auch der Herbst dem Ende zu neigt. Selbst das Licht des Tages spendete er nicht, beim Aufstehn morgens, um ein Bild zu schenken von ihm – dem Tag –, der kurz sein würde, weil die Sonne – kaum dass sie aufging im Südosten, schon wieder unterging im Südwesten.
   Dann endlich zeigte er sich – der Tag – grau, nass und kalt, die Nebel verhüllten die Berge.
Mein Frühstück war schnell eingenommen, das Notwendigste für den Tag gemacht, und was blieb zu tun? Unlust hatte mich beschlichen, ja, auch ein wenig Traurigkeit, oder war es Sentimentalität?
   Ich beschloss, ein paar Zeilen an Hanni zu schreiben, um mit ihr diese Stimmung zu teilen oder sie uns beiden ein wenig aufzuhellen. Es gelang mir nicht. Aus dem Keller holte ich noch die Winter-Garderobe, war doch für morgen bereits Frost und Schnee angesagt. Auch das noch! Ich las noch etwas, dann überlegte ich, dass ich heute nicht in die Post zum Essen fahren würde, sondern nach Wildenwart, in jene Schlosswirtschaft, in der ich mich immer wohl gefühlt hatte. Zuvor aber wollte ich noch Hanni den Brief bringen, den ich ihr geschrieben hatte.
   Im Tal lag dichter Nebel; hier oben [in Höhenmoos] war er nur wie ein silberner Schleier, der über der trüben Landschaft hing, wie der Trauerschleier einer jungen Witwe.
   Die gestern gewaschene Wäsche wollte ich noch von der Leine nehmen, aber sie hing nass, kalt und träge wie die Gedanken. [Da wär halt ein Trockner recht. fj] Dann fuhr ich ab. Hinter dem Waldstück öffnete sich der Nebel, und schon bald war ich bei Hanni und traf sie in ihrem Garten.
   Ich hab’ ihr erzählt, was ich in der Nacht geträumt hatte.
   Wir waren zu dritt zu einer kleinen Reise aufgebrochen, hatten beim »Wilden Mann« übernachtet, einem kleinen Hotel mit auserlesener Küche und bestem Service, etwas oberhalb, südlich von Innsbruck, und waren am nächsten Morgen weitergefahren nach Südtirol.
   In Brixen waren wir, im Hotel zum »Goldenen Adler« und auch in Bozen, wie das im Traum so durcheinander geht. Das alles sind Stationen der Erinnerungen an Reisen mit meiner verstorbenen Frau.
   Ich hatte mich bereits verabschiedet, als eine junge Frau aus dem Haus kam und mit Hanni redete. Mir war sie nicht vorgestellt worden, und ich konnte dem Gespräch auch nicht sogleich entnehmen, in welcher Beziehung sie zum Haus oder zur Situation stand. Ich sah nur in ihr Gesicht, hörte sie sprechen, aber meine Ohren sind zu schlecht, um verstanden zu haben, was gesprochen wurde. Doch schon bald wurde ich ins Gespräch einbezogen, und bemerkte, dass diese junge Frau aus Bozen war und Hannis Vater physiotherapeutisch behandelt. Was für ein merkwürdiger Zufall!
   Ich erzählte ihr viel von dem, was ich von Südtirol kenne, von Brixen, von Bozen, vom wundervollen Hotel »Mondschein«, vom Schlern, diesem wundervollen Berg, von Tölz [Völs meint Schuldt wohl, Völs am Schlern:], vom Völser Weiher, wo wir an heißen Sommertagen badeten, vom Finsterwirt, vom Brückenwirt, zitierte die Zeile von Britting »Als der Zug über den Brenner fuhr / wurde der Himmel hell« (siehe unten) – und vergaß den grauen Tag!
   Meiner Einladung an sie, mitzukommen nach Wildenwart, zum Essen, mußte sie leider absagen.
   Mit ihr war der Himmel aufgebrochen, und wie ein Sonnenstrahl erhellte sie den Tag. Was ging mir danach noch alles durch den Kopf, was fiel mir alles ein, was alles hätte ich ihr erzählen können! Vom Gemüsemarkt [Obstmarkt] in Bozen, diesem einmaligen in der Welt, an dem es am Ende ein kleines Lokal gibt mit eigener kleiner Brauerei [»Hopfen …«]. Vom Sarntal, das man nördlich von Bozen erreicht, in dem ein Freund von mir einen alten Hof aus dem Mittelalter besitzt, den Siebenfahrerhof. Von dem Tal in der Nähe von Bozen, in dem sich die Geschichte abspielt, die unter dem Titel »die Windhunde« von Britting erzählt wird und die eine so merkwürdige Methode der Tilgung von Schuld enthält! Von den Zwillingen des Arztehepaars aus dem Inntal, die nach Brixen verheiratet wurden, in Brittings Erzählung »die Wallfahrt«. Und von, von, von, ... Wir hätten dort schon übernachten müssen, und selbst dann wäre vieles unerzählt geblieben!
   Britting hatte seiner Frau immer gesagt: »Wenn einer von uns zuerst stirbt, ziehe ich nach Bozen!« Er ist natürlich vor ihr gestorben. Sie wurde meine Frau, die nicht nach Bozen zog, aber sehr oft mit mir gemeinsam dort war.
   Ja, da fällt mir ein, dass wir auch mit dem Museum in Bozen zu tun hatten, das einige Bilder von uns erwarb, von dem Maler Werner Scholz, der viele Südtiroler Motive gemalt hat. Und von [Guido] Zangrando, dem italienischen Journalisten, müsste ich erzählen, der in Verona ansässig war, und der uns Zugang verschafft hatte in Villen, Schlösser und Paläste rund um den Gardasee Und der es sich immer, wenn wir da waren, nicht nehmen ließ, ein Foto meiner Frau in die Zeitung zu bringen und einige Gedichte von Britting. Er war verliebt in meine Frau, und ich hatte große Mühe, ihn abzuwehren! Wer weiß, wie verliebte Italiener sind, der wird das verstehen.
   Doch nun Schluss. Das sollte ja auch nicht das Thema sein!
   Ja, was aber ist denn das Thema? Es muss nicht immer ein Thema sein! Genügt es nicht, dass eine junge Frau aus Bozen einem alten Mann den Tag vergoldet hat?
   Ihr nun sei das Gedicht übergeben, dessen ersten zwei Zeilen ich zitierte, ihr seien auch die von mir edierten »Italienischen Impressionen« übergeben –
   und das mit einem ganz herzlichen Gruß von Hans-Joachim Schuldt.

Erste Italienfahrt

Und als der Zug übern Brenner fuhr,
Wurde der Himmel hell,
Die Wolken weniger, kleiner, und nur
Eine beharrliche flog mit uns schnell.
Bei Verona zerging auch sie,
Und der Himmel war blau und allein.
Bis zum Brenner sah man viel scheckiges Vieh,
Dann nicht mehr, dann nur mehr Wein.
Die Häuser sahen wie Würfel aus
Und hatten ein flaches Dach.
Und kein Wind ging.  Der ging wohl in nordischen Wäldern mit Braus.
Nur Weizen wogte hier schwach.
Florenz war schön und war alt wie Stein
Und hatte ein strenges Gesicht,
Der Arno war stumpf wie ein Sumpf und kein
Mondstrahl brachte ihm Licht.
Der Mond, der war wohl im Norden, rot
Und gelb über Wiesen und Rohr.
Hier in der Schenke bei Wein und Brot
Scholls fremd an unser Ohr.
Wir saßen verlorn wie im Käs der Wurm,
Der Arno dunkelte, schwieg,
Bis der Morgen kam, bis der steinerne Turm
In den grünen Himmel stieg.

Da trugen die Morgenhügel
Toskanas Zypressen schmal,
Und ein Raubvogel, ernst, ohne Flügel
Zu rühren, hing über dem Tal.

Georg Britting



Hier noch eine kleine »Nachgeschichte« über den genannten Journalisten »Professor« Guido Zangrando. Eine Kür von Fritz Jörn, dem Lektor hier. Geschrieben hat sie Giuseppe Brugnoli, veröffentlicht wurde sie im Stadtmagazin »Verona In«, in diesem unvergleichlich schönen Italienisch mit seinem lange Sätze tragenden Stil und seiner Erzählvergangenheit, dem passato remoto, wörtlich dem fern Vergangenen. Ich beschränke mich aud das Ende, auf die Pointe:

«el último beso de Alfonso de Portago»

Erst Mensch, dann Journalist

Das war Guido Zangrando. Doch sein Meisterstück vollführte er im Zusammenhang mit einem schweren Unglück. Er war zusammen mit Korrespondenten aus ganz Italien eiligst nach Guidizzolo bei Mantua entsandt worden. Das war 1957, man fuhr gerade die Mille Miglia; es sollte die letzte sein, denn danach wurde sie ausgesetzt, eben wegen dieser Tragödie an eben diesem Ort. »Marchese« (Markgraf) Alfonso de Portago, ein spanischer »Hidalgo« – Sohn also aus bester Familie –, schön und herzlich, den schon bei seiner Taufe König Alfonso von Spanien gehalten hatte, und der einen Prototypen Ferrari Sport fuhr, war wenige Kilometer vor dem Ziel in Brescia von der Straße abgekommen. Er tötete sich selbst, 28 Jahre alt, und weitere acht Personen, darunter drei Kinder. Zangrando kam als einer der ersten Journalisten an, und seine Agentur, die Ansa, begann sofort Eilnachrichten und Berichte durchzugeben, präzise und pünktlich wie immer, nur vielleicht ohne dieses Kolorit, ohne Beschreibungen von Stimmung und Personen, die Zangrandos berufliches Können so wesentlich prägten.
   Ich fragte ihn nach dem Grund dieser Nüchternheit, dieser Trockenheit. Ein wenig widerwillig gestand er mir, dass kurz nach seiner Ankunft in diesem kleinen Ort im Mantovesischen auch Linda Christian ankam, ganz verwirrt und verzweifelt. Sie war mit dem schönen Fahrer des Ferraris liiert, verband mit ihm – wie man damals so keusch sagte – eine »gefühlsvolle Freundschaft«, eine «affetuosa amicizia». Die Schauspielerin, damals auf der Höhe ihrer Bekanntheit, die später den ebenso berühmten Tyrone Power heiraten sollte, hatte de Portago am Streckenposten in Rom verabschiedet und war fotografiert worden, wie sie ihn vor dem Start geküsst hatte. Dann war sie nach Ciampino geeilt, dem römischen Flughafen, und hatte ein Privatflugzeug nach Linate bei Mailand bestiegen, um danach im Auto an das Ziel in Brescia zu eilen und ihn dort wieder in die Arme zu schließen. In Brescia kam de Portago nie an, und Linda Christian wurde nach Guidizzolo geschickt. »Als ich ankam«, erzählte mir der große Guido, »war sie erschüttert und weinte, konnte kein Wort Italienisch, und da war nur ich, der Englisch sprach. Sie hing sich an mich. Ich brachte sie in ein nahegelegenes Haus. Dort erzählte sie mir alles über sich, über ihn, über ihre Liebe. Nach einigen Stunden fragte sie mich, wie ich denn in diesen Ort käme. Ich sagte ihr, ich sei Journalist, und hier eben wegen dem Unglück. Sie bekam einen Weinanfall und sagte mir, ihre Geschichte würde in allen Zeitungen der Welt erscheinen. Woraufhin ich mich aufrichtete, aufstand und ihr sagte: ›Signora, noch bevor ich Journalist bin, bin ich in erster Linie Mensch. Und ein Herr.‹«
   In der Tat hat Guido Zangrando von dieser Episode, von diesem so außergewöhnlichen Zusammentreffen in einem so außergewöhnlichen Augenblick, die das Glück jedes Journalisten in den Gazetten der halben Welt bedeutet hätte, nie auch nur ein Wort verlauten lassen.

– Vom Unglück gibt es leicht unterschiedliche Berichte. Hier schreibt Brugnoli vom Fahrer und acht weiteren Toten, insgesamt also neun, sonst sind es mit dem Beifahrer Edmund Nelson insgesamt elf (s. it. Wikipedia). Das Auto war der Ferrari 335 S Nummer 531.

Linda Christian in de Portagos Ferrari 860 S,
Kubanischer Grand Prix 1957 (Foto Flickr)